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Eine Begegnung mit John Ogdon (1937-1989)

Es war, wie ich rekonstruieren konnte, der 14.Juli 1988.

Ich war mit einer Kollegin nach London geflogen (Londons Notenantiquariate waren damals der Traum eines jeden Musikers!) und wir waren mit dem Taxi unterwegs in die City, als sie plötzlich „STOP!“ rief.

Der Taxifahrer fuhr vor Schreck fast in den Gegenverkehr ..“warten Sie einen Moment!“..und sie zerrte mich zu einem Plakat: John Ogdon plays Sorabji Opus Clavicembalisticum.

Ich erinnere mich noch, als sei es gestern, an meine erste Reaktion: „Ogdon? Der lebt noch?“ Denn der Sieger des Tschaikovsky-Wettbewerbs von 1962 (geteilter 1.Preis, gemeinsam mit Vladimir Ashkenazy) war mir zwar durch einige phänomenale EMI-LPs ein Begriff, war aber so vollkommen aus dem Klassikbetrieb verschwunden (während Vladimir Ashkenazy gleichzeitig einer, wenn nicht der präsenteste Pianist dieser Zeit überhaupt war), dass ich davon ausgehen musste, ihm sei etwas zugestossen – dem war auch in der Tat so, aber dazu später. 

Wir fuhren also zur Queen Elizabeth Hall und ich suchte in meinem Kopf zusammen, was ich über Sorabjis Opus Clavicembalisticum wusste: Sehr, sehr lang, unspielbar, der Komponist hatte vier Jahrzehnte lang jegliche öffentliche Aufführung verboten.

Wie bereits erwähnt, war mir John Ogdons Erscheinung nurch durch einige PR-Fotos von Plattenhüllen bekannt und ich erschrak doch etwas, als ein vorzeitig gealterter, ungewöhnlich umfangreicher Mann mit weißen Haaren und einem von Zigaretten vergilbten Bart zusammen mit einem Umblätterer unsicher die Bühne betrat und und sich am Klavier niederließ.

Doch, welche Verwandlung! Plötzlich ging ein Ruck durch den Pianisten und es begann eine pianistische tour de force, ein Marathon, den ich nie vergessen werde, wie wohl jeder, der ihn miterleben durfte.

Denn Sorabjis „Opus Clavicembalisticum“ ist lang, sehr lang: Ogdons kurz nach dem Konzert eingespielte Studioaufnahme (Altarus Records, u.a. bei Apple Music zu streamen) bringt es auf viereinhalb Stunden reine Spielzeit!

Und wir kamen in den Genuss eines besonderen Extras, denn kurz vor Beginn des Konzerts setzte sich ein schmaler Herr vor uns und öffnete auf seinen Knien die Noten des Werks – der Zufall hatte uns Plätze hinter dem schottischen Komponisten und Pianisten Ronald Stevenson beschert, der sich überhaupt nicht daran störte, dass da zwei Verrückte über seine Schulter mitlasen, uns nach der ersten Pause sogar an seine Seite bat. 

Es ist gar nicht einfach zu beschreiben, wie die Musik von Kaikhosru Shapurji Sorabji, wie „Opus Clavicembalisticum“ klingt.

Meine erste Begegnung mit dem Werk hatte ich durch einen Mitschnitt mit dem Pianisten Geoffrey Douglas Madge – ich gestehe, dass mein erster Eindruck der eines ungeheuren Besteckkastens war, der vier Stunden lang über mir ausgeschütet wurde. Dass die Noten nicht zugänglich waren (was sich inzwischen dank des Sorabji-Archivs und seines Leiters Alistair Hinton geändert hat), machte die Sache nicht einfacher, ich beschäftigte mich trotzdem immer wieder mit diesem ungeheuren, so eindrücklichen und doch so unerreichbar fernen Werk.

Bei John Ogdon kam nun jedoch noch die unmittelbare Wirkung des Live-Konzerts hinzu, die ungeheure pianistische Leistung, der strahlende Klang des wundervollen Instruments.

In der ersten Pause verschwand Ronald Stevenson hinter der Bühne, um mit besorgtem Gesicht wieder aufzutauchen, während des zweiten Teils schien ihn etwas zu beschäftigen, abzulenken und in der zweiten Pause – die nicht nur der Pianist, sondern auch das Publikum wirklich brauchte – fasste ich mir ein Herz und sprach den von mir so bewunderten Komponisten (seine „Peter Grimes Fantasy“ habe ich oft gespielt, ein Meisterwerk!) an.

Zunächst war er fassungslos über meine Unwissenheit, dann blickte er mich plötzlich traurig an: „Zwanzig? Ach, dann haben Sie natürlich nichts mitbekommen..“

In wenigen Minuten fasste er mir nun ein Leben voller Höhen und Tiefen zusammen, dass immer wieder von Krankheit beeinträchtigt wurde.

Nach dem Konzert: Ein triumphaler Erfolg, im dreiviertelstündigen Finale hatte Ogdon sämtliche Grenzen pianistischen Könnens und des Intruments ad absurdum geführt. 

Das Publikum, wie aus einem Traum erwachend, applaudierte erst zögernd, dann vollkommen entfesselt einem Pianisten, von dem zu ahnen war, dass man ihn möglicherweise nicht wiedersehen würde.  

John Andrew Howard Ogdon, Jahrgang 1937, wuchs in Manchester auf, war Schüler von Richard Hall, Iso Elinson und Gordon Green und stiess bereits früh zur Manchester New Music Group um die Komponisten Harrison Bithwistle, Peter Maxwell Davies und Alexander Goehr.

John Ogdon besaß eine ungewöhnliche Begabung: Er konnte praktisch jedes Werk, dass man ihm vorlegte, konzertreif vom Blatt spielen.

Berichte von Musikerkollegen umfassen u.a. die zweite Sonate von Pierre Boulez, die ihm zwar nicht besonders gefiel, die er aber trotzdem noch am selben Abend (!) im Konzert spielte, die dritte Sonate von Sorabji, das zweite Brahms-Klavierkonzert, dass er innerhalb eines Tages (!) lernte und die „Vingt Regards“ von Olivier Messiaen (zwei Tage).

1958 debütierte er bei den Londoner Proms mit Busonis 80-minütigem Kavierkonzert mit Schlusschor.

1959 spielte er im Haus von Ronald Stevenson zum ersten Mal K.S.Sorabjis „Opus Clavicembalisticum“ für den Widmungsträger, den schottischen Schriftsteller Hugh McDiarmid (eigentlich C.M.Grieve).

1962 dann der große Durchbruch: Ogdon gewinnt, gemeinsam mit Vladimir Ashkenazy, den 2.Tschaikovsky-Wettbewerb im Fach Klavier.

Dieser Sieg bringt Ogdon Engagements auf der ganzen Welt, er spielt zeitweise über 200 Konzerte pro Jahr und dies keineswegs mit Standardrepertoire: Sein musikalischer Hausgott Busoni spielt immer eine Rolle, er ergreift jede Gelegenheit, dessen Klavierkonzert aufzuführen.

Auch zeitgenössische Komponisten tauchen oft in seinen Programmen auf, nicht nur die bekannten, sondern auch Namen wie Thomas Pitfield, Richard Yardumian und Peter Mennin.

Schon früh machen sich jedoch Zeichen einer schwankenden Gesundheit, einer angreifbaren emotionalen Verfassung bemerkbar. 

Ich möchte auf diesen Aspekt hier nicht tiefer eingehen, empfehle interessierten aber Charles Beauclerk‘s ausgezeichnete Biographie „Piano Man“ und die Dokumentation der BBC, in der Weggefährten wie Rodney Friend, Stephen Hough, Hamish Milne, Cleo Laine und nicht zuletzt Ogdons Kinder zu Wort kommen.

Auf einen wichtigen Bereich im Leben des Pianisten John Ogdon möchte ich ein wenig ausführlicher zu sprechen kommen: Die Aufnahmen.

John Ogdon hatte eine sehr individuelle Art, Klavier zu spielen, mit weichen, flexiblen Händen.

So ist seine Aufnahme des ersten Tschaikowsky-Konzerts unter Leitung von John Barbirolli, die direkt nach dem Wettbewerb entstand, nicht nur ein Beispiel dafür, wie fast schon unvirtuos dieses so abgespielte Werk klingen kann, sondern auch dafür, wieviele Möglichkeiten der Interpretation es gibt.

Ähnlich entdeckungsfreudig und spontan sind viele Aufnahmen des Standardrepertoires: Francks Symphonische Variationen, Rachmaninows zweites Konzert und Paganini-Rhapsodie, Liszts h-moll-Sonate, die Klavierkonzerte von Mendelssohn (mit der bis heute unerreichten Referenzaufnahme des Rondo brillant Op.29), Rachmaninows Etudes-Tableaux, Beethovens Hammerklaviersonate!

Und natürlich die Aufnahme, die allein ihn schon unsterblich gemacht hätte: Liszts Réminiscences de Don Juan. 

In dieser Aufnahme, wohl der einzigen, die jemals an Simon Bareres Höllenritt von 1935 heranreichte, zeigt Ogdon, wie man pianistische Probleme, an denen sich Generationen von Pianisten die Finger wund geübt haben, wie nebenher löst, während man gleichzeitig souverän einen musikalischen Bogen über dieses sehr buntscheckige Werk schlägt – so faszinierend wie einschüchternd!

John Ogdon war zeitweise weniger ein Pianist, als ein klavierspielender Komponist. Sein Repertoire war von ungeheurer Breite und dies schlug sich in Aufnahmen nieder, deren Werke zum Teil auch heute noch obskur sind, zu erwähnen sind hier das erste Konzert von Glasunow, die Aufnahmen zeitgenössischer britischer Komponisten, das Klavierwerk von Carl Nielsen, die Sonaten von Alexander Scriabin, Messiaens „Vingt Regards“, Liszts Spanische Rhapsodie in der Orchesterfassung von Busoni und, nicht zuletzt, sein eigenes Klavierkonzert!

Ich muss bekennen, dass ich die Aufnahmen des Klavierduos des Ehepaars John Ogdon/Brenda Lucas Ogdon nie geliebt habe. 

Ich hatte immer das Gefühl, dass hier zwei viel zu unterschiedliche Partner zusammenspielen.

Schließlich möchte ich noch auf die späten, von Krankheit beeinträchtigten Aufnahmen zu sprechen kommen, die sich in zwei deutlich voneinander abgegrenzte Bereiche teilen:

Die Aufnahmen für Altarus, bei denen sich Ogdon offensichtlich in einer inspirierenden Umgebung befand: Busoni, Bach-Busoni, zwei Recitals und, natürlich, Sorabjis „Opus Clavicembalisticum“, seine letzte Aufnahme.

Und die Aufnahmen für ASV, EMI und Collins, bei denen Ogdon den Versuch unternahm, nochmals das gesamte Klavierwerk von Rachmaninow aufzunehmen.

Diese Aufnahmen sind sehr ungleich, geniale Momente stehen direkt neben fast schon hilflosen Versuchen, dem Text gerecht werden.

Ich bin in Bezug auf diese Aufnahmen sehr gespalten: Zum einen sind es natürlich Dokumente eines Pianisten, zum anderen frage ich mich immer wieder, ob man ihm mit der Veröffentlichung einen Gefallen getan hat.

John Ogdon verstarb am 1.August 1989 52-jährig in London an den Folgen einer Lungenentzündung.

Doch bis heute wühlt mich das Konzerterlebnis des 14.Juli 1988 zutiefst auf.

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