Eine Begegnung mit John Ogdon (1937-1989)

Es war, wie ich rekonstruieren konnte, der 14.Juli 1988.

Ich war mit einer Kollegin nach London geflogen (Londons Notenantiquariate waren damals der Traum eines jeden Musikers!) und wir waren mit dem Taxi unterwegs in die City, als sie plötzlich „STOP!“ rief.

Der Taxifahrer fuhr vor Schreck fast in den Gegenverkehr ..“warten Sie einen Moment!“..und sie zerrte mich zu einem Plakat: John Ogdon plays Sorabji Opus Clavicembalisticum.

Ich erinnere mich noch, als sei es gestern, an meine erste Reaktion: „Ogdon? Der lebt noch?“ Denn der Sieger des Tschaikovsky-Wettbewerbs von 1962 (geteilter 1.Preis, gemeinsam mit Vladimir Ashkenazy) war mir zwar durch einige phänomenale EMI-LPs ein Begriff, war aber so vollkommen aus dem Klassikbetrieb verschwunden (während Vladimir Ashkenazy gleichzeitig einer, wenn nicht der präsenteste Pianist dieser Zeit überhaupt war), dass ich davon ausgehen musste, ihm sei etwas zugestossen – dem war auch in der Tat so, aber dazu später. 

Wir fuhren also zur Queen Elizabeth Hall und ich suchte in meinem Kopf zusammen, was ich über Sorabjis Opus Clavicembalisticum wusste: Sehr, sehr lang, unspielbar, der Komponist hatte vier Jahrzehnte lang jegliche öffentliche Aufführung verboten.

Wie bereits erwähnt, war mir John Ogdons Erscheinung nur durch einige PR-Fotos und von Plattenhüllen bekannt und ich erschrak doch etwas, als ein vorzeitig gealterter, ungewöhnlich umfangreicher Mann mit weißen Haaren und einem von Zigaretten vergilbten Bart zusammen mit einem Umblätterer unsicher die Bühne betrat und und sich am Klavier niederließ.

Doch, welche Verwandlung! Plötzlich ging ein Ruck durch den Pianisten und es begann eine pianistische tour de force, ein Marathon, den ich nie vergessen werde, wie wohl jeder, der ihn miterleben durfte!

Denn Sorabjis „Opus Clavicembalisticum“ ist lang, sehr lang: Ogdons kurz nach dem Konzert eingespielte Studioaufnahme (Altarus Records, u.a. bei Apple Music zu streamen) bringt es auf viereinhalb Stunden reine Spielzeit!

Und wir kamen in den Genuss eines besonderen Extras, denn kurz vor Beginn des Konzerts setzte sich ein schmaler Herr vor uns und öffnete auf seinen Knien die Noten des Werks – der Zufall hatte uns Plätze hinter dem schottischen Komponisten und Pianisten Ronald Stevenson beschert, der sich überhaupt nicht daran störte, dass da zwei Verrückte über seine Schulter mitlasen, uns nach der ersten Pause sogar an seine Seite bat. 

Es ist gar nicht einfach zu beschreiben, wie die Musik von Kaikhosru Shapurji Sorabji, wie „Opus Clavicembalisticum“ klingt.

Meine erste Begegnung mit dem Werk hatte ich durch einen Mitschnitt mit dem Pianisten Geoffrey Douglas Madge – ich gestehe, dass mein erster Eindruck der eines ungeheuren Besteckkastens war, der vier Stunden lang über mir ausgeschütet wurde. Dass die Noten nicht zugänglich waren (was sich inzwischen dank des Sorabji-Archivs und seines Leiters Alistair Hinton geändert hat), machte die Sache nicht einfacher, ich beschäftigte mich trotzdem immer wieder mit diesem ungeheuren, so eindrücklichen und doch so unerreichbar fernen Werk.

Bei John Ogdon kam nun jedoch noch die unmittelbare Wirkung des Live-Konzerts hinzu, die ungeheure pianistische Leistung, der strahlende Klang des wundervollen Instruments.

In der ersten Pause verschwand Ronald Stevenson hinter der Bühne, um mit besorgtem Gesicht wieder aufzutauchen, während des zweiten Teils schien ihn etwas zu beschäftigen, abzulenken und in der zweiten Pause – die nicht nur der Pianist, sondern auch das Publikum wirklich brauchte – fasste ich mir ein Herz und sprach den von mir so bewunderten Komponisten (seine „Peter Grimes Fantasy“ habe ich oft gespielt, ein Meisterwerk!) an.

Zunächst war er fassungslos über meine Unwissenheit, dann blickte er mich plötzlich traurig an: „Zwanzig? Ach, dann haben Sie natürlich nichts mitbekommen..“

In wenigen Minuten fasste er mir nun ein Leben voller Höhen und Tiefen zusammen, dass immer wieder von Krankheit beeinträchtigt wurde.

Nach dem Konzert: Ein triumphaler Erfolg, im dreiviertelstündigen Finale hatte Ogdon sämtliche Grenzen pianistischen Könnens und des Instruments ad absurdum geführt. 

Das Publikum, wie aus einem Traum erwachend, applaudierte erst zögernd, dann vollkommen entfesselt einem Pianisten, von dem zu ahnen war, dass man ihn möglicherweise nicht wiedersehen würde.  

John Andrew Howard Ogdon, Jahrgang 1937, wuchs in Manchester auf, war Schüler von Richard Hall, Iso Elinson und Gordon Green und stiess bereits früh zur Manchester New Music Group um die Komponisten Harrison Bithwistle, Peter Maxwell Davies und Alexander Goehr.

John Ogdon besaß eine ungewöhnliche Begabung: Er konnte praktisch jedes Werk, dass man ihm vorlegte, konzertreif vom Blatt spielen.

Berichte von Musikerkollegen umfassen u.a. die zweite Sonate von Pierre Boulez, die ihm zwar nicht besonders gefiel, die er aber trotzdem noch am selben Abend (!) im Konzert spielte, die dritte Sonate von Sorabji, das zweite Brahms-Klavierkonzert, dass er innerhalb eines Tages (!) lernte und die „Vingt Regards“ von Olivier Messiaen (zwei Tage).

1958 debütierte er bei den Londoner Proms mit Busonis 80-minütigem Kavierkonzert mit Schlusschor.

1959 spielte er im Haus von Ronald Stevenson zum ersten Mal K.S.Sorabjis „Opus Clavicembalisticum“ für den Widmungsträger, den schottischen Schriftsteller Hugh McDiarmid (eigentlich C.M.Grieve).

1962 dann der große Durchbruch: Ogdon gewinnt, gemeinsam mit Vladimir Ashkenazy, den 2.Tschaikovsky-Wettbewerb im Fach Klavier.

Dieser Sieg bringt Ogdon Engagements auf der ganzen Welt, er spielt zeitweise über 200 Konzerte pro Jahr und dies keineswegs mit Standardrepertoire: Sein musikalischer Hausgott Busoni spielt immer eine Rolle, er ergreift jede Gelegenheit, dessen Klavierkonzert aufzuführen.

Auch zeitgenössische Komponisten tauchen oft in seinen Programmen auf, nicht nur die bekannten, sondern auch Namen wie Thomas Pitfield, Richard Yardumian und Peter Mennin.

Schon früh machen sich jedoch Zeichen einer schwankenden Gesundheit, einer angreifbaren emotionalen Verfassung bemerkbar. 

Ich möchte auf diesen Aspekt hier nicht tiefer eingehen, empfehle interessierten aber Charles Beauclerk‘s ausgezeichnete Biographie „Piano Man“ und die Dokumentation der BBC, in der Weggefährten wie Rodney Friend, Stephen Hough, Hamish Milne, Cleo Laine und nicht zuletzt Ogdons Kinder zu Wort kommen.

Auf einen wichtigen Bereich im Leben des Pianisten John Ogdon möchte ich ein wenig ausführlicher zu sprechen kommen: Die Aufnahmen.

John Ogdon hatte eine sehr individuelle Art, Klavier zu spielen, mit weichen, flexiblen Händen.

So ist seine Aufnahme des ersten Tschaikowsky-Konzerts unter Leitung von John Barbirolli, die direkt nach dem Wettbewerb entstand, nicht nur ein Beispiel dafür, wie fast schon unvirtuos dieses so abgespielte Werk klingen kann, sondern auch dafür, wieviele Möglichkeiten der Interpretation es gibt.

Ähnlich entdeckungsfreudig und spontan sind viele Aufnahmen des Standardrepertoires: Francks Symphonische Variationen, Rachmaninows zweites Konzert und Paganini-Rhapsodie, Liszts h-moll-Sonate, die Klavierkonzerte von Mendelssohn (mit der bis heute unerreichten Referenzaufnahme des Rondo brillant Op.29), Rachmaninows Etudes-Tableaux, Beethovens Hammerklaviersonate!

Und natürlich die Aufnahme, die allein ihn schon unsterblich gemacht hätte: Liszts Réminiscences de Don Juan. 

In dieser Aufnahme, wohl der einzigen, die jemals an Simon Bareres Höllenritt von 1935 heranreichte, zeigt Ogdon, wie man pianistische Probleme, an denen sich Generationen von Pianisten die Finger wund geübt haben, wie nebenher löst, während man gleichzeitig souverän einen musikalischen Bogen über dieses sehr buntscheckige Werk schlägt – so faszinierend wie einschüchternd!

John Ogdon war zeitweise weniger ein Pianist, als ein klavierspielender Komponist. Sein Repertoire war von ungeheurer Breite und dies schlug sich in Aufnahmen nieder, deren Werke zum Teil auch heute noch obskur sind, zu erwähnen sind hier das erste Konzert von Glasunow, die Aufnahmen zeitgenössischer britischer Komponisten, das Klavierwerk von Carl Nielsen, die Sonaten von Alexander Scriabin, Messiaens „Vingt Regards“, Liszts Spanische Rhapsodie in der Orchesterfassung von Busoni und, nicht zuletzt, sein eigenes Klavierkonzert!

Ich muss bekennen, dass ich die Aufnahmen des Klavierduos des Ehepaars John Ogdon/Brenda Lucas Ogdon nie geliebt habe. 

Ich hatte immer das Gefühl, dass hier zwei viel zu unterschiedliche Partner zusammenspielen.

Schließlich möchte ich noch auf die späten, von Krankheit beeinträchtigten Aufnahmen zu sprechen kommen, die sich in zwei deutlich voneinander abgegrenzte Bereiche teilen:

Die Aufnahmen für Altarus, bei denen sich Ogdon offensichtlich in einer inspirierenden Umgebung befand: Busoni, Bach-Busoni, zwei Recitals und, natürlich, Sorabjis „Opus Clavicembalisticum“, seine letzte Aufnahme.

Und die Aufnahmen für ASV, EMI und Collins, bei denen Ogdon den Versuch unternahm, nochmals das gesamte Klavierwerk von Rachmaninow aufzunehmen.

Diese Aufnahmen sind sehr ungleich, geniale Momente stehen direkt neben fast schon hilflosen Versuchen, dem Text gerecht werden.

Ich bin in Bezug auf diese Aufnahmen sehr gespalten: Zum einen sind es natürlich Dokumente eines Pianisten, zum anderen frage ich mich immer wieder, ob man ihm mit der Veröffentlichung einen Gefallen getan hat.

John Ogdon verstarb am 1.August 1989 52-jährig in London an den Folgen einer Lungenentzündung.

Doch bis heute wühlt mich das Erlebnis dieses 14.Juli 1988 zutiefst auf.

Shortcut: Mein iPad im Konzert-Rucksack, wie er sich nach vielen Jahren on the road herauskristallisiert hat:

iPad mit geladenem Akku, Pencil, allen benötigten Noten in der App und überprüfter Synchronisation (dazu genügt es in meinem Falle, NewZik im heimatlichen WLAN kurz zu öffnen)

Reserve-iPad mit geladenem Akku und Pencil (auch dieses synchronisiert, natürlich)

Starkes, schnelles Ladegerät

Kleines, leichtes Reserve-Ladegerät

Bluetooth-Kopfhörer (immer nützlich)

Blätterpedal, geladen (Übrigens hält dieser Akku sehr lange durch, die angegebenen 30-40 Betriebsstunden erscheinen mir realistisch)

2 USB C-Kabel (eines kann immer kaputtgehen..)

Handy mit synchronisiertem Newzik. Da meine iPads reine WLAN-Modelle sind, gehe ich auch mit dem Hotspot des Handys ins Netz, das verbraucht Strom, deswegen…..

Ladekabel fürs Handy (..und ich freue mich schon darauf, diese Zeile irgendwann einmal löschen zu können, wenn alle Handy mit USB C laden…)

Für Aufnahmen: Ein offener, kabelgebundener Kopfhörer (kein teures Luxusgerät, muss nur bequem sitzen und eine 6,3mm-Klinke haben)

Handtuch (50×100) zum Zusammenrollen, falls ich das iPad doch in den Flügel legen möchte – neben klanglichen Vorteilen sieht man so übrigens den Dirigenten oder auch Kammermusikpartner sehr viel besser…

Falls es ins Ausland geht: Passende Steckdosenadapter!

Paul Dan (1944-2023) – unsterblicher Lehrer und Freund

Es ist schon wieder fünf Jahre her und erscheint mir doch wie gestern, als ich die Laudatio für Paul anlässlich seiner Verabschiedung an der Mannheimer Musikhochschule halten durfte.

Wir alle wussten um seine Krankheit, die ihm so früh die Tasten aus der Hand genommen hat – und doch hielt ich ihn immer für unsterblich!

Nun ist er gegangen, und ich habe beschlossen, meinen Text aus dem Jahr 2018 umzuarbeiten, obwohl…ein Nachruf? 

Auf Paul?

Ich kann mir gut vorstellen, wie er an seinem Flügel auf Wolke sieben sitzt, Schubert spielt, den Kopf schüttelt und sagt: „Nun nehmt das mal alles nicht so furchtbar ernst!“

Nein, viel eher warte ich darauf, dass er um die Ecke kommt, kurz den Text überfliegt und sagt: „Das ist ja FURCHTBAR! Das hat doch wirklich noch viel Zeit!“

Denn das erste, was mir in den Sinn kommt, wenn ich an ihn denke, ist sein Lachen, sein ansteckendes Lachen, dass er so oft im Gesicht hatte – wohl wenige Musiker können von sich sagen, mit so viel Spass und Vergnügen an die Musik herangegangen zu sein wie Paul, wer könnte etwa vergessen, wie er aus dem letzten Satz von Poulencs „Napoli“ ein fröhliches, lautes, bacchantisches Fest machte – um dann im Mittelteil plötzlich ganz still, ganz fern und verloren nie gehörte Klänge aus dem Flügel zu zaubern.

Paul Dan, Jahrgang 1944 war Schüler von Joseph Willer, Ella Philip, Georg Halmos und Florica Musicescu, der Lehrerin von Dinu Lipatti und Radu Lupu und studierte in Klausenburg und Bukarest. 1968 gewann er den Förderpreis des Bach-Wettbewerbs in Leipzig und konnte seine Ausbildung bei Hugo Steurer in München fortsetzen, die er mit Auszeichnung abschloss. Seit 1973 war er Gastprofessor in Tokio, seit 1978 war er Professor für Klavier und Kammermusik an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Mannheim, von der er sich 40 Jahre später, 2018, verabschiedete.

Als Solist trat er unter anderem mit den Wiener Symphonikern, den New Japan Philharmonics, dem Tokyo Symphony Orchestra und dem Tokyo Metropolitan Orchestra auf. Daneben bildete die Kammermusik einen Schwerpunkt seiner Aktivitäten. 

1996 zog er sich aus gesundheitlichen Gründen aus dem Konzertleben zurück und wirkte seitdem ausschließlich als Lehrer, worauf ich zunächst eingehe:

Beginnen möchte ich mit zwei Zitaten seiner Schülerin Friederike Bischoff, die heute an der Hochschule in Tromsö/Norwegen lehrt:

„Man kann diese Stelle stundenlang, tagelang üben und es ist trotzdem Zufall, ob sie klappt – oder man lässt diese verdoppelte Oktave weg und kann sie sofort sauber spielen – das musst Du jetzt selbst entscheiden!“

und:

„Inspirierend, offen und niemals Grenzen setzend.“

Es gibt im Grundsatz zwei Sorten von Lehrern: Jene, deren Schüler blind jeden Ratschlag befolgen, geradezu abhängig werden von ihnen um dann nach Abschluss des Studiums in ein tiefes Loch zu fallen, weil ihnen plötzlich das stützende Gerüst fehlt. 

Einer dieser Lehrer, eine damals sehr berühmte pädagogische Koryphäe, hat mir übrigens kurz vor dem Studium bescheinigt, ich sei gleichermaßen vollkommen unbegabt als Pianist wie als Musiker – horribile dictu!

Und dann gibt es jene, die ihre Schüler inspirieren, ihren eigenen Weg zu suchen, sich von Anfang an auf eigene Füße zu stellen und nicht nur die eigene Leistung, sondern auch die ihres Lehrers kritisch zu hinterfragen – keineswegs der bequemere Weg und zwar für beide Seiten!

Aber, auf lange Frist gesehen, der einzige Weg, der dem Schüler wirklich den Weg nicht nur durch den Beruf, sondern auch durch das Leben weist, bei dem der Lehrer sich nicht durch den Schüler definiert, sondern sich diesen seinen eigenen Weg suchen lässt – auch mit allen in dem Moment nötigen Irrwegen und durch alle Dickichte hindurch!

Selbst wenn der Schüler das Gefühl hat, sich eine neue Inspiration suchen zu müssen, nach neuen Ideen aus einer Sackgasse suchen zu müssen, in die er sich vielleicht auch aus eigener Blindheit – das Brett vor dem eigenen Kopf ist einem ja bekanntlich immer am nächsten – verrannt hat, sollte der Lehrer trotzdem aus einer gewissen Distanz immer zugewandt bleiben, auch der Lehrerwechsel könnte ja ein Irrweg gewesen sein, wir reden hier ja nicht von Ehebruch, auch wenn manche diesen anscheinend als weniger schlimm als einen Lehrerwechsel wahrnehmen….

Eine für ihn sehr bezeichnende Episode ist diese: Als er einmal ein Repertoiresemester nahm, holte er als seinen Vertreter nicht etwa einen Freund oder jemand, wie der für ihn von Vorteil sein könnte sondern: Michael Ponti. 

Der amerikanische Pianist, damals immer noch auf der Höhe seiner Berühmtheit, fiel in die Klasse ein wie ein Wirbelwind! Das klangliche Spektrum wurde noch einmal erweitert, bis hin zu dem berühmt gewordenen, mit unnachahmlichem Louis Armstrong-Reibeisen untermalten: „Hier, diese Melodie in der Mittelstimme, die müssen Sie ballern, mit dem Daumen, sonst hört man das nicht!“

Ein großes Erlebnis, unverzichtbar und unvergessen!

Es sei nur am Rand angemerkt: Es war eine vollkommen andere Hochschule als heute, es gab etwa halb soviel Studenten – aber neun Klavierprofessoren! Der Umgangston war ein ganz anderer, der Kontakt untereinander auch – es wäre undenkbar gewesen, nicht in den Klassenabend der Studienkollegen zu gehen…tempi passati, leider, denn früher war zwar nicht alles besser – aber vieles war gut!

Ich gestehe es hier offen ein: In meiner ungewöhnlich langen Zeit mit Paul Dan – mit der bereits angeführten Unterbrechung waren es insgesamt dreizehn Jahre! – habe ich nicht alles gleich verstanden, habe viele Anregungen in dem Moment nicht einmal als solche wahrgenommen, habe ihn gewiss auch des öfteren durch mein Unverständnis verletzt.

Zum Teil spielte hier sicherlich meine Jugend eine Rolle: Kierkegaards „Don Juan als philosophisches Paradigma“ und Alice Millers „der gemiedene Schlüssel“ waren Literaturempfehlungen, bei denen er gewiß für einen kurzen Moment vergaß, daß ich erst vierzehn Jahre alt war. Doch mit welchem Genuss, mit welcher Begeisterung habe ich diese Lektüre sehr viel später verstehen können!

Paul Dans Unterricht fand keineswegs immer am Instrument statt: Wie oft habe ich mit ihm im Café um die Ecke gesessen und wie unendlich viel habe ich dabei gelernt, über den Klang am Klavier – ein zentraler Punkt seines Unterrichts, der Dirigent, der mir einmal bescheinigte, bei mir klinge das Instrument immer ein wenig besoffen weiß bis heute nicht, welch großes Kompliment er mir gemacht hat – , über Werke, über Sekundärliteratur, über das Leben mit der Musik und den Beruf des Musikers. Ich  könnte heute mit Sicherheit niemals Vorlesungen über Literaturkunde halten, hätte, um nur ein Beispiel unter sehr(!) vielen zu nennen, wohl nie das Klavierkonzert von Arnold Schönberg gelernt, hätte mich Paul Dan nicht zu immer neuer Neugier angestiftet.

Doch auch von seiner Geduld, seinem Langmut gegenüber einem schwierigen, autistischen Kind aus einer komplizierten Musikerfamilie soll hier berichtet werden. Mit 15 verschwand ich einmal ohne größere Erklärungen seitens meiner Eltern für drei Monate – in der ersten Stunde danach war er unverändert wie eh und je.

In meinem zweiten Studienjahr packte mich plötzlich das Fernweh und ich ging zum Studium nach München, noch dazu bei einem seiner ehemaligen Studienkollegen – er fand die Idee großartig!

Nach zwei, sehr diplomatisch ausgedrückt, unglücklich verlaufenen Jahren fragte ich ihn vor Angst schlotternd, ob er noch einen Studienplatz für einen verunglückten Rückkehrer frei hätte – er zögerte keinen Moment!

Nur dass ich den Spaß am Klavierspielen, am Musikmachen überhaupt erst wieder finden musste, das war Ausgangspunkt langer, fassungsloser Diskussionen……

Berichtet werden soll hier auch von der unendlichen Geduld, mit der er einem zwölfjährigen (sic!) mit großer methodischer Souveränität pianistische Grundlagen erklärte, wobei er nebenbei noch meine Versuche ertrug, Beethovens „Appassionata“ und das erste Tschaikowsky-Konzert zu spielen – was man mit 12 Jahren halt so im Kopf hat. Triller, Oktaven,Passagen, Anschlagsarten, klangliche Balance waren für Monate mein täglich Brot, dass er mit niemals nachlassender Intensität bearbeitete.

Nebenbei gab es noch ganz praktische Anwendung trockener Materie: Kontrapunkt wäre mir bis heute ein Fremdwort, hätte ich ihn nicht als Zwölfjähriger am Beispiel der c-moll-Fuge aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers erklärt bekommen – sehr viel gründlicher, methodischer und fassbarer übrigens als in jeder späteren Vorlesung….

Formanalyse, einmal erklärt am Beispiel der „Appassionata“, ist mir seitdem beim täglichen Üben in Fleisch und Blut übergegangen – nur in der Formenlehre-Vorlesung verstand ich sie plötzlich nicht mehr, aber das ist eine ganz andere Geschichte….

Das besondere an diesem Unterricht war vor allem dies: War der kurzfristige Erfolg im Unterricht vielleicht nicht immer sofort sichtbar, so groß war er es auf lange Frist gesehen. Bis zum heutigen Tag begleitet mich sein Ethos der Musik gegenüber, gehen mir Sätze aus seinem Unterricht durch den Kopf und helfen mir immer wieder aufs neue, pianistische Probleme zu lösen, Musik zu verstehen, Inspiration in einem ungeliebten Werk, das nichtsdestotrotz gelernt werden muss, zu finden, Werke aus dem langjährigen Standardrepertoire immer neu zu erfinden – und meine letzte Klavierstunde bei ihm liegt immerhin 25 Jahre zurück!

Noch ein Ausspruch, der von vielen seiner Schüler kommt: „Niemand hätte mich besser auf den Beruf vorbereiten können – auch wenn ich das damals nicht gemerkt habe!“

Einen Teil seiner Persönlichkeit haben leider sehr viele nie erlebt – den Pianisten!

Paul Dan war ein Pianist, der mit Leichtigkeit ein großes und vielseitiges Repertoire pflegte. 

Ich erinnere mich – und niemand, der dabei war, wird diesen Abend je vergessen – an sein Antrittskonzert im Dezember 1980, bei dem er Ravels „Gaspard de la nuit“ und Liszts Sonate h-moll wie aus dem Moment heraus erschuf, besonders aber an die kleine A-Dur-Sonate von Franz Schubert (D 664), die so vermeintlich harmlos den Abend eröffnete, um dann im langsamen Satz in die klangliche Unendlichkeit einzutauchen. 

Ich erinnere mich an eine wilde, berauschende, bunte „Napoli“-Suite von Francis Poulenc, Liszts „Csardas macabre“, der wirklich wie die Beschwörung der Hölle klang, an die für mich bis heute auf einsamer Höhe stehende Darstellung der Rachmaninowschen Corelli-Variationen – und ich habe meine Hausaufgaben durchaus gemacht, ich verfüge über fast alle Aufnahmen dieses Werks! – , denen er in überlegener Weise formale Logik verlieh, ohne dabei jemals an musikalischem Schwung oder musikalischer Freiheit einzubüßen.

Die Cellosonaten von Beethoven, die er mit meinem Vater am Cello mit soviel Temperament wie inniger Versenkung interpretierte.

Nicht zuletzt Joseph Haydn, dem er den „Säulenheiligen“ gründlich austrieb, den er mit großem Witz, Verve und steter Begeisterung spielte.

Das 4.Klavierkonzert von Beethoven, dass er mit bezwingender musikalischer Intensität erfüllte und, natürlich, das aufwühlende Urerlebnis des Konzerts für die linke Hand von Ravel, dass ich nie wieder in dieser überwältigenden Mischung aus klanglicher Gewalt, pianistischem Können und musikalischem Zauber gehört habe.

Nicht nur bekanntes fand sich im Repertoire: Die konzertanten Divertimenti von Hans Vogt – nach ihm ist der Saal im Altbau der Musikhochschule in Mannheim benannt, er war dort lange Kompositionsprofessor –  seien hier genannt, die Rapsodia sinfonica von Joaquin Turina oder – damals ein viel obskureres Werk als heute! – das Klavierkonzert von Antonin Dvorak. Bis heute bekomme ich beim Gedanken an das Hauptthema aus seinen Händen eine Gänsehaut!

Doch all dies ist Schall und Rauch gegen den Klavierabend, der Paul Dans letzter werden sollte, bei dem er im frisch renovierten Hans Vogt-Saal Schuberts letzte Sonate in B-Dur und Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ spielte.

Zu erklären, in welcher Weise Paul Dan in der Schubert-Sonate an diesem Abend an letzten Dingen rührte, gliche dem Versuch, einen Kometen mit einem Schmetterlingsnetz einzufangen. Nie wieder – auch nicht bei einem Sokolov oder Richter, dem ich einige Male umblättern durfte – habe ich solche Klänge aus einem Flügel kommen hören, alleine der Übergang in die Durchführung des ersten Satzes war, als bliebe die Zeit für einen sehr, sehr langen Moment einfach stehen. 

Das Erlebnis dieses Abends hat mich selbst am Klavier sehr lange von Schubert ferngehalten – solche Höhen schienen ohnehin unerreichbar, doch das lange Warten hat sich gelohnt, kann ich doch heute an Schubert mit einer durch lange Jahre gewachsenen Gewißheit heran gehen, auch hier also wieder ein pädagogischer Erfolg auf sehr lange Sicht…..

Ich bin dankbar, daß ich diesen Abend erleben durfte, der mich im innersten berührt hat wie wirklich kein anderes Konzert seitdem, und unendlich dankbar für all die Musik, die ich durch ihn kennen und lieben lernen durfte.

Nach all diesen Jahren, für mich 43 Jahre mit einem grossen Musiker, Lehrer und Freund, verneige ich mich unter Tränen in grosser Dankbarkeit vor Paul – obwohl ihn ihn sehr laut sagen höre (und alle, die ihn kannten, wissen, was ich meine!) „Aber, das ist ja furchtbar!“