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Die Fünf und die Fünfundneunzig Prozent

Die Fünf und die Fünfundneunzig Prozent

Zum Thema Musik und Moral

Es ist eine mittlerweile ganz alltägliches Phänomen: Eine der grossen Kulturinstitutionen (Museen, Theater, Orchester…) legt ein ganz besonders „fortschrittliches, modernes“ Programm vor um junge Leute anzusprechen, neue Publikumsschichten zu gewinnen, kurz: Um relevant zu bleiben.

Dabei muss die Frage, die wirklich im Raum stehen sollte doch wohl diese sein: Wie ist es möglich, dass all diese Institutionen der Ansicht sind, sie müssten um Relevanz in der heutigen Gesellschaft kämpfen?

Wie konnte es soweit kommen, dass antisemitische Rapper, deren Texte aus Beschimpfungen und Hassparolen bestehen Millionen von Fans haben, während diejenigen, die die großen Meisterwerke der Geschichte lebendig und im Bewusstsein halten, immer mehr glauben ins Abseits zu geraten und ihre Existenz rechtfertigen zu müssen?

Ein Punkt, an dem anzusetzen ist, ist gewiss dieser: Die immer weiter nachlassende Vermittlung kultureller Bildung durch die Schulen. 

Der Musikunterricht in den Schulen ist in den letzten 30 Jahren immer mehr zu einem exotischen Randfach verkommen, dessen Zugehörigkeit zum Bildungskanon immer mehr in Frage gestellt wird, dessen Notwendigkeit in Zeiten der ohnehin zeitlich ineffektiven Ganztagsschule immer mehr in Frage gestellt wird.

Doch wie kann man einerseits, wie es viele Politiker tun, die immer mehr um sich greifende Verrohung der Kinder und Jugendlichen in Deutschland beklagen, nach immer härteren Strafen und einem immer weiter wuchernden Überwachungsstaat rufen und gleichzeitig den Kindern immer mehr die Bildungschancen entziehen?

Zum einen ist es eine durch zahlreiche Untersuchungen erwiesene Tatsache, dass der Bildungerfolg in Deutschland vor allem von der Dicke des Portemonnaies der Eltern abhängt, zum anderen ist der positive Einfluss von Musik, von Musikhören und, vor allem: Von Musik selber machen seit langem eine Binsenweisheit.

Was aber passiert? In manchen Bundesländern fallen bis zu 80 Prozent der Musikstunden aus, oder werden von unqualifizierten Lehrern gegeben.

Zusätzlich wird den Kindern durch die Ganztagsschule auch noch die Möglichkeit genommen, nach der Schule eine Musikschule zu besuchen, insbesondere im ländlichen Raum, wo noch zusätzliche Fahrzeiten anfallen.

Nicht zuletzt ist es offensichtlich der Wille der Politik, die Musikschulen in Deutschland immer weiter auszuhungern. Viele Lehrer müssen dort unter absolut unzumutbaren räumlichen wie finanziellen Bedingungen arbeiten, immer in der Angst, ihre Schule werde ihre Stelle doch noch einsparen müssen.

Dies ist keineswegs eine auf kleine, finanzschwache Kommunen beschränkte Beobachtung. Gerade die großen Städte, die immer Millionen für teure Prestigeobjekte zu haben scheinen, kürzen gerne an der musikalischen Bildung ihrer Kinder und verschärfen damit noch mehr die Tatsache, dass Musikunterricht immer mehr ein Privileg der Besserverdienenden wird.

Somit wird den Kindern also einerseits durch die Ganztagsschule ein ungemein wichtiges Moment der sozialen Bildung, die Familie nämlich, entzogen.

Andererseits wird ihnen aber auch die Möglichkeit gegeben, sich intensiv mit Musik, mit Klängen, mit der Erlernen eines Instruments auseinanderzusetzen, obwohl der positive Einfluss auf die emotionale wie persönliche Entwicklung gerade in der Kindheit seit vielen Jahren wissenschaftlich belegt ist!

Wen verwundert es da wenn Kinder, deren soziale wie musikalische Sozialisierung zu großen Teilen auf dem Schulhof stattfindet, fast schon automatisch den Weg des geringsten Widerstandes gehen.

Denn welche Musik wäre einfacher zu konsumieren als, um beim Beispiel zu bleiben, die offenbar in fünf Minuten auf dem Computer zusammengeklickten Simpel-Beats eines Farid Bang?

Worin liegt denn der große Erfolg einer Helene Fischer? Doch nicht in der (nicht vorhandenen) komplexen Kontrapunktik ihrer Lieder, sondern, abgesehen von einer wirklich meisterhaften Bühnenshow, in ihrer einfachen Konsumierbarkeit.

Darum ist ihr Name auch in aller Munde, ist mittlerweile geradezu zum Synonym für deutschen Schlager geworden.

Interessant war es, die öffentlichen Stellungnahmen nach dem ECHO-Skandal zu sehen: Während die Institutionen der Pop-und Rockindustrie, die Musikindustrie, die Lehranstalten und deren Vertreter offenbar hofften, die Angelegenheit aussitzen zu können – wenige Ausnahmen wie Campino (…über dessen Texte man sich durchaus streiten könnte…) oder Marius Müller-Westernhagen (…auch er diskutabel, mindestens für „Dicke“…) seien hier rühmend angeführt – ging ein Sturm der Entrüstung durch die Netzwerke der klassischen Musik, zahlreiche Echos landeten im Mülleimer, große Namen wie Barenboim oder Thielemann nannten das Kind endlich beim Namen, denn auch der Vorwurf des Antisemitismus sollte anfangs vom Tisch gewischt werden.

Wie dies?

Es scheint, dass sich in den Reihen der klassischen Musiker ein sehr hoher Prozentsatz von Überzeugungstätern findet, von Musikern, die aus echter Überzeugung ihrer Profession nachgehen, im Grunde nur sehr peripher am Markterfolg interessiert.

Dies mag nach einer sehr egoistischen Einstellung klingen, doch definiert sich die Kunst nicht gerade durch ihre völlige Freiheit den Strömungen der Zeit gegenüber? Ist es nicht die Beschreibung der Kunst an sich, immer nach neuem zu suchen ohne Rücksicht auf das was gerade opportun wäre?

Waren die Künstler nicht einst diejenigen, die den Puls der Gesellschaft veränderten? Bach, der die Musik aus der Kirche holte, Beethoven, der sämtliche gesellschaftlichen Konventionen aufbrach? Goethe, Schiller, Kant, die – jeder in seiner Weise – der Gesellschaft ihre moralischen Scheuklappen vors Gesicht hielten?

Wäre es nicht allerhöchste Zeit dafür, dass die klassische Musik ihren Elfenbeinturm verlässt und den Versuch unternimmt, wieder für 95 Prozent der Gesellschaft jenen bestimmenden Platz einzunehmen der momentan von rappenden Gestalten mit wilden Bärten beziehungsweise von Helene Fischer eingenommen wird, anstelle nur für einen elitären Bezirk von 5 Prozent eine Rolle zu spielen?

Was spricht eigentlich dagegen, auch in Stadien und Arenen zu spielen? Die Tontechnik ist längst soweit, ein Orchester auch unter solchen Umständen gut klingen zu lassen und das Konzertformat als solches längst alltäglich.

„Bach to the People“ hat es Friedrich Gulda genannt – und es schon vor langem selber durchexerziert, in einem Konzert, in dem er als Ersatz für eine ausgefallene Vorgruppe eine halbe Stunde Open Air als Opener für Randy Newman spielte – und zwar nicht etwa seine eigenen Jazzkompositionen, sondern – Mozart!

Ich habe vor Jahren mit einem damaligen Besucher des Konzerts gesprochen, der den Abend so zusammenfasste: „Mehrere Tausend mehrheitlich junge Leute halten 30 Minuten atemlose Andacht bei tief berührender Musik. Der Newman hat es danach sehr, sehr schwer gehabt….!“

Und vor allem: Was spricht dagegen, dass sich die klassischen Musiker wieder in die Alltagsdebatte einmischen? 

Musik an sich, gerade Musik vom Rang einer h-moll-Messe trägt einen großen moralischen Anspruch in sich, eine Suche nach Vollendung und Frieden.

Gerade im Licht der Vorgänge um den ECHO im April 2018 wäre es doch an der allerhöchsten Zeit, die Deutungshoheit über die Musik wieder aus den Händen derer, die in Musik nur Mittel zum Zweck sehen, nur ein Wirtschaftsgut das gute Umsätze generiert, zurückzuholen.

Musik ist die einzige universelle Sprache, die alle Menschen von Geburt an sprechen. Jeder Mensch versteht Musik, jeder auf seine ganz einzigartige Weise.

Es sollte also die Rolle der Musiker sein, die Musik zu jedem Menschen zu bringen, ganz besonders aber zu den Kindern, denn die Kinder sind schliesslich unsere Zukunft!

Natürlich kann dies nur gelingen, wenn die Politik endlich begreift dass die Musik eben kein Kostenfaktor ist, sondern vor allem dies: Ein kategorischer Imperativ.

Und dieser kategorische Imperativ sollte auch bestimmend sein für alle Musiker, denn auch wenn es anfangs schwer fallen mag: Wir sind in der Lage, den Menschen etwas zu geben, das ihr ganzes Leben verändern kann, wir müssen es aber auch ganz klar öffentlich formulieren und uns klar gegen all jene positionieren, die mit ihrer „Musik“ nur Hass und Gewalt in die Herzen bringen, nur ein Ziel im Sinn: Den Geldbeutel ihrer Zuhörer.

So ganz unschuldig sind die Klassiker und Jazzer allerdings auch nicht am Untergang des ECHO: Es war natürlich einfacher, sich in seinen jeweiligen Elfenbeintürmen zu verbarrikadieren als Stellung zu beziehen dazu, dass da draußen die Welt untergeht – musikalisch gesehen. 

Dass die Preise denselben Namen tragen und von der Öffentlichkeit als ein und derselbe ECHO verstanden werden, war rückblickend der große Geburtsfehler des Preises. 

Mit ausbaden müssen ihn jetzt auch die Klassiker, weil wir dem Pop in den letzten Jahren die Deutungshoheit über die Musik in D überlassen haben, uns nicht eingemischt haben in öffentliche Debatten sondern uns damit begnügt haben, zuhause den Trophäenschrank abzustauben. 

Es ist an der allerhöchsten Zeit, dass die klassische Musik sich selbst wieder als allgemein gesellschaftlich relevant begreift, ihren bequemen Elfenbeinturm verlässt, nicht nur um wieder zurückzukehren ins allgemeine Bewußtsein, sondern eben auch um wieder als eine moralische Institution begriffen zu werden, die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht nur hilflos zusieht, sondern sich diesen wo nötig mit aller Kraft entgegen stellt. 

Natürlich müssten auch die Feuilletons ihre Rolle dabei ganz neu definieren. Eine Wende zum besseren kann nur gelingen, wenn all diejenigen die mit der Musik zu tun haben – Musiker, Ausbildungsstätten, Sendeanstalten, Musikindustrie, Träger in Stadt, Land und Bund, Presseorgane – ihrer Verantwortung der Musik gegenüber wieder gerecht werden.

Es ist notwendig, bei allem berechtigten Stolz auf das selbst erreichte niemals die Selbstkritik ganz auszuschalten, ebenso wie die ehrlich bewundernde, aber auch kritische Betrachtung des Tuns anderer.

Das soll keineswegs den Weg in eine wie auch immer geartete Zensur bedeuten! Die Kunst ist frei und soll es immer bleiben!

Aber es wird Zeit für eine kritische Betrachtung, was der klassischen Musik denn das Ankuscheln an den Rock, den Pop, den Jazz eingebracht hat?

Haben all die mit viel Liebe und Arbeit auf die Schienen gesetzten Crossover-Projekte wirklich die Sinfonieorchester, die Solisten, die Opernhäuser mehr ins Bewusstsein der jungen Generation gebracht?

Meine persönliche Beobachtung ist eher die, dass die klassischen Teile solcher Programme eher abgesessen werden und dann ein Aufatmen durch das Publikum geht, wenn endlich der Rock und der Pop ihre Stimme erheben.

Dies soll keine Herabsetzung dieser Musik bedeuten! In Rock und Pop sind genau wie in der Klassik große Meisterwerke entstanden, es stellt sich aber die Frage, ob diese durch die Kombination miteinander nicht eher leiden als gewinnen?

Würde es der Respekt den Werken gegenüber nicht gebieten, dem Publikum diese ohne weitere Komplikationen durch verwirrende Programme zu präsentieren?

Ich bin, um ein Beispiel zu nennen, dem Nationaltheater Mannheim dankbar dafür, dass es mich durch seine „Vespertine“-Adaption dazu animiert hat, die CDs wieder aus dem Schrank herauszusuchen und mich mit der so ganz eigenen Musik Björks zu befassen.

Doch ist dies nicht ein Hinweis darauf, dass es öfter als bisher der Erinnerung an Meisterwerke der Vergangenheit bedarf?

Und wenn es schon des Hinweises auf die Berühmtheit Björk bedarf, warum wird der klassischen Musik dann immer mehr die Möglichkeit genommen, die Kinder bereits in der Schule oder noch früher zu erreichen?

Warum höre ich, wenn ich im Radio (Antenne wie Internet) herumzappe so viel Mainstream-Pop?

Ich habe nichts gegen Popmusik, ganz im Gegenteil!

Aber ich habe etwas gegen die Indoktrinierung unserer Jugend, dagegen, dass ihr vorgeschrieben wird, welche Musik sie gut zu finden hat, bevor sie überhaupt weiss was es alles gibt. Wer hört denn in der jungen Generation noch, was früher „Weltmusik“ genannt wurde?

Und selbst dann möchte ich nicht, dass mir der Rundfunk oder – auch das – Spotify, Apple Music und andere Streaming-Dienste immer das gleiche Menü vorsetzen.

„Kinder, schafft neues!“ sagte Richard Wagner und so möchte ich immer neues entdecken und nicht immer die ewig gleichen „Anderen, die …. hörten, gefällt auch…“ -Listen sehen, so schmal ist Musik nicht!

Auch die Klassik ist nicht frei davon: Möchte ein Künstler ein bekanntes Werk aufnehmen, heißt es oft „Das gibt es schon 127mal am Markt“. 

Mag sein, aber vielleicht möchte das Publikum gerade diesen Künstler mit gerade diesem Werk hören, wer weiß? Außerdem: Wenn unser Publikum sich stetig erneuern soll, warum scheuen wir dann vor Wiederholung zurück?

Das Publikum heute (2018) ist ein völlig anderes als das vor 10 Jahren und auch die heutigen Konzertbesucher möchten die 5.Symphonie von Beethoven hören, ja, wir werden sie überhaupt nur erreichen, wenn wir immer wieder an die großen Meisterwerke der Klassik, auch der zeitgenössischen, erinnern!

Nur dann wird es der klassischen Musik meiner festen Überzeugung nach gelingen, wieder eine größere Rolle im Leben der Menschen von heute zu spielen, vielleicht sogar wieder die Rolle, aus der sie sich durch Rock und Pop  immer mehr hat drängen lassen!

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