Mein Lehrer Paul Dan

Heute achtunddreißig Jahr – Mein Lehrer Paul Dan

Laudatio zur Verabschiedung von Prof.Paul Dan an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst Mannheim am 15.10.2018

Als mir mein Lehrer und Freund Paul Dan den Auftrag zu dieser Laudatio antrug, war mir dies große Freude – und als ich so meine Gedanken zu sortieren begann, wurde mir klar, wie lange all das schon zurückreicht, wie unglaublich lange er mich stets in meinen Gedanken begleitet.

Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich im folgenden sehr subjektiv werde – ich bin so, ich kann nicht anders!

Und das Lügen habe ich leider – oder Gott sei Dank? – nie gelernt….

Zunächst einige biographische Daten:

Paul Dan, Jahrgang 1944 war Schüler von Joseph Willer, Ella Philip, Georg Halmos und Florica Musicescu, der Lehrerin von Dinu Lipatti und Radu Lupu und studierte in Klausenburg und Bukarest. 1968 gewann er den Förderpreis des Bach-Wettbewerbs in Leipzig und konnte seine Ausbildung bei Hugo Steurer in München fortsetzen, die er mit Auszeichnung abschloss. Seit 1973 war er Gastprofessor in Tokio, seit 1978 ist er Professor für Klavier und Kammermusik an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Mannheim – also seit nunmehr 40 Jahren.

Als Solist trat er unter anderem mit den Wiener Symphonikern, den New Japan Philharmonics, dem Tokyo Symphony Orchestra und dem Tokyo Metropolitan Orchestra auf. Daneben bildete die Kammermusik einen Schwerpunkt seiner Aktivitäten. 

1996 zog er sich aus gesundheitlichen Gründen aus dem Konzertleben zurück und wirkt seitdem ausschließlich als Lehrer, worauf ich zunächst eingehen möchte

Beginnen möchte ich mit zwei Zitaten einer seiner Schülerinnen, meiner hochgeschätzten Kollegin Friederike Bischoff, die heute an der Hochschule in Tromsö/Norwegen lehrt:

„Man kann diese Stelle stundenlang, tagelang üben und es ist trotzdem Zufall ,ob sie klappt – oder man lässt diese verdoppelte Oktave weg und kann sie sofort sauber spielen – das musst Du jetzt selbst entscheiden!“

und:

„Inspirierend, offen und niemals Grenzen setzend.“

Wissen Sie, es gibt im Grundsatz zwei Sorten von Lehrern: Jene, deren Schüler blind jeden Ratschlag befolgen, geradezu abhängig werden von ihnen um dann nach Abschluss des Studiums oft in ein tiefes Loch zu fallen, weil ihnen plötzlich das stützende Gerüst fehlt. 

Einer dieser Lehrer, eine damals sehr berühmte pädagogische Koryphäe, hat mir übrigens kurz vor dem Studium bescheinigt, ich sei gleichermaßen vollkommen unbegabt als Pianist wie als Musiker – horribile dictu!

Und dann gibt es jene, die ihre Schüler inspirieren, ihren eigenen Weg zu suchen, sich von Anfang an auf eigene Füße zu stellen und nicht nur die eigene Leistung, sondern auch die ihres Lehrers kritisch zu hinterfragen – keineswegs der bequemere Weg und zwar für beide Seiten!

Aber, auf lange Frist gesehen der einzige Weg, der dem Schüler wirklich den Weg nicht nur durch den Beruf, sondern auch durch das Leben weist, bei dem der Lehrer sich nicht durch den Schüler definiert, sondern sich diesen seinen eigenen Weg suchen lässt – auch mit allen in dem Moment nötigen Irrwegen und durch alle Dickichte hindurch!

Selbst wenn der Schüler das Gefühl hat, sich eine neue Inspiration suchen zu müssen, nach neuen Ideen aus einer Sackgasse suchen zu müssen, in die er sich vielleicht auch aus eigener Blindheit – das Brett vor dem eigenen Kopf ist einem ja bekanntlich immer am nächsten – verrannt hat, sollte der Lehrer trotzdem aus einer gewissen Distanz immer zugewandt bleiben, auch der Lehrerwechsel könnte ja ein Irrweg gewesen sein, wir reden hier ja nicht von Ehebruch, auch wenn manche diesen anscheinend als weniger schlimm als einen Lehrerwechsel wahrnehmen….

Eine für ihn sehr bezeichnende Episode ist diese: Als er einmal ein Repertoiresemester nahm, holte er als seinen Vertreter nicht etwa einen Freund oder jemanden, der für ihn von Vorteil sein könnte sondern: Michael Ponti. 

Der amerikanische Pianist, damals immer noch auf der Höhe seiner Berühmtheit, fiel in die Klasse ein wie ein Wirbelwind! Das klangliche Spektrum wurde noch einmal erweitert, bis hin zu dem berühmt gewordenen, mit unnachahmlichem Louis Armstrong-Reibeisen untermalten „Hier, diese Melodie in der Mittelstimme, die müssen Sie ballern, mit dem Daumen, sonst hört man das nicht!“

Ein großes Erlebnis, unverzichtbar und unvergessen!

Es sei nur am Rand angemerkt: Es war eine vollkommen andere Hochschule als heute, es gab etwa halb soviel Studenten – aber neun Klavierprofessoren! Der Umgangston war ein ganz anderer, der Kontakt untereinander auch – es wäre undenkbar gewesen, nicht in den Klassenabend der Studienkollegen zu gehen…tempi passati, leider, denn früher war zwar nicht alles besser – aber vieles war gut!

Ich gestehe es hier offen ein: In meiner ungewöhnlich langen Zeit mit Paul Dan – mit der bereits angeführten Unterbrechung waren es insgesamt dreizehn Jahre! – habe ich nicht alles gleich verstanden, habe viele Anregungen in dem Moment nicht einmal als solche wahrgenommen, habe ihn gewiss auch des öfteren durch mein Unverständnis verletzt.

Zum Teil spielte hier sicherlich meine Jugend eine Rolle: Kierkegaards „Don Juan als philosophisches Paradigma“ und Alice Millers „der gemiedene Schlüssel“ waren Literaturempfehlungen, bei denen er gewiß für einen kurzen Moment vergaß, daß ich erst vierzehn Jahre alt war. Doch mit welchem Genuss, mit welcher Begeisterung habe ich diese Lektüre sehr viel später verstehen können!

Paul Dans Unterricht fand keineswegs immer am Instrument statt: Wie oft habe ich mit ihm im Café um die Ecke gesessen und wie unendlich viel habe ich dabei gelernt, über den Klang am Klavier – ein zentraler Punkt seines Unterrichts, der Dirigent, der mir einmal bescheinigte, bei mir klinge das Instrument immer ein wenig besoffen weiß bis heute nicht, welch großes Kompliment er mir gemacht hat – , über Werke, über Sekundärliteratur, über das Leben mit der Musik und den Beruf des Musikers. Ich  könnte heute mit Sicherheit niemals Vorlesungen über Literaturkunde halten, hätte, um nur ein Beispiel unter sehr(!) vielen zu nennen, wohl nie das Klavierkonzert von Arnold Schönberg gelernt, hätte mich Paul Dan nicht zu immer neuer Neugier angestiftet.

Doch auch von seiner Geduld, seinem Langmut gegenüber einem schwierigen, leicht autistischen Kind aus einer komplizierten Musikerfamilie soll hier berichtet werden. Mit 15 verschwand ich einmal ohne größere Erklärungen seitens meiner Eltern für drei Monate – in der ersten Stunde danach war er unverändert wie eh und je.

In meinem zweiten Studienjahr packte mich plötzlich das Fernweh und ich ging zum Studium nach München, noch dazu bei einem seiner ehemaligen Studienkollegen (wie hieß er noch mal?) – er fand die Idee großartig!

Nach zwei, sehr diplomatisch ausgedrückt, unglücklich verlaufenen Jahren fragte ich ihn vor Angst schlotternd, ob er noch einen Studienplatz für einen verunglückten Rückkehrer frei hätte – er zögerte keinen Moment!

Nur dass ich den Spaß am Klavierspielen, am Musikmachen überhaupt erst wieder finden musste, das war Ausgangspunkt langer, fassungsloser Diskussionen……

Berichtet werden soll hier auch von der unendlichen Geduld, mit der er einem zwölfjährigen (sic!) mit großer methodischer Souveränität pianistische Grundlagen erklärte, wobei er nebenbei noch meine Versuche ertrug, Beethovens „Appassionata“ und das erste Tschaikowsky-Konzert zu spielen – was man mit 12 Jahren halt so im Kopf hat. Triller, Oktaven,Passagen, Anschlagsarten, klangliche Balance waren für Monate mein täglich Brot, dass er mit niemals nachlassender Intensität bearbeitete.

Nebenbei gab es noch ganz praktische Anwendung trockener Materie: Kontrapunkt wäre mir bis heute ein Fremdwort, hätte ich ihn nicht als Zwölfjähriger am Beispiel der c-moll-Fuge aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers erklärt bekommen. 

Formanalyse, einmal erklärt am Beispiel der „Appassionata“, ist mir seitdem beim täglichen Üben in Fleisch und Blut übergegangen – nur in der Formenlehre-Vorlesung verstand ich sie plötzlich nicht mehr, aber das ist eine ganz andere Geschichte….

Das besondere an diesem Unterricht war vor allem dies: War der kurzfristige Erfolg im Unterricht vielleicht nicht immer sofort sichtbar, so groß war er es auf lange Frist gesehen. Bis zum heutigen Tag begleitet mich sein Ethos der Musik gegenüber, gehen mir Sätze aus seinem Unterricht durch den Kopf und helfen mir immer wieder aufs neue, pianistische Probleme zu lösen, Musik zu verstehen, Inspiration in einem ungeliebten Werk, das nichtsdestotrotz gelernt werden muss, zu finden, Werke aus dem langjährigen Standardrepertoire immer neu zu erfinden – und meine letzte Klavierstunde bei ihm liegt immerhin 25 Jahre zurück!

Noch ein Ausspruch, der von vielen seiner Schüler kommt: „Niemand hätte mich besser auf den Beruf vorbereiten können – auch wenn ich das damals nicht gemerkt habe!“

Ich selbst bin nach so vielen Jahren, in denen Paul Dan vom Lehrer zum vertrauten Freund wurde natürlich nicht mehr objektiv ihm gegenüber, darum will ich von zwei eindrücklichen Momenten in meinem Leben erzählen, will andere seine Qualitäten darstellen lassen: 

Ich muß 16 Jahre alt gewesen sein, als ich zum ersten Mal zu den Sommerkursen des großen ungarischen Pianisten György Cziffra fuhr. 

Dem vorausgegangen war ein bemerkenswerter Moment, in dem ich Paul Dan fragte, was ich denn während der endlosen Sommerferien ohne ihn machen solle. Seine Antwort: „Ich will Dich erst mal nicht sehen, geh auf jeden Kurs, den Du kriegen kannst, egal wo, egal bei wem, und wenn Du nur siehst, wie Du es nicht machen willst!“ Weise Worte!

Nun, angekommen in Frankreich hatte ich die aus heutiger Sicht größenwahnsinnige Idee, Liszts „Totentanz“ zu spielen, also im übertragenen Sinne zu versuchen, 100 Meter gegen Usain Bolt zu sprinten. Bereits nach den einleitenden Kadenzen (richtiger: Kadenzversuchen, so, wie ich spielte) wurde ich unterbrochen, bekam den Klavierauszug mit den Worten „Begleite mich mal kurz, ich zeige Dir mal die rhythmische Struktur des Anfangs…“ in die Hand gedrückt und bekam eine Demonstration des wohl virtuosesten Klavierspiel, das ich jemals erlebte. Bis zum heutigen Tag bin ich der festen Überzeugung, daß Rauch und Flammen aus dem Flügel stiegen!

Mit den Worten „geh üben!“ bekam ich meine Noten überreicht.

Am nächsten Morgen – ich hatte die Nacht am Klavier verbracht – nahm ich den nächsten Anlauf und bekam, nein, kein Lob, sondern eine Ermahnung: „Du hast offenbar einen großen Lehrer, hör ihm besser zu und mach es beim nächsten Mal gleich richtig!“ – kein selbstverständlicher Satz aus seinem Mund!

Der andere Moment ereignete sich ungefähr 2005, ich durfte Lorin Maazel auf einer Tournee durch die USA assistieren und korrepetierte eine Klavierprobe mit dem unangenehm komplizierten Cellokonzert von Peter Mennin – aus der Partitur, da der handschriftliche Klavierauszug mehr Verwirrung stiftete als hilfreich war.

Nach einem langen Kampf mit den rhythmischen Tücken des Werks und der ebenfalls schlecht lesbaren Partitur legte sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter und ein ganz ungewohnt sanftes „Du musst einen höllisch guten Lehrer gehabt haben“ brummelte durch den Raum. Es sind solche Momente, in denen man lernt, wie sehr man den eigenen Lehrer zu schätzen hat!

Nachdem ich nun den Lehrer Paul Dan gewürdigt habe, möchte ich auf den Teil seines Lebens zu sprechen kommen, den viele hier leider nie erlebt haben – den Pianisten!

Paul Dan war ein Pianist, der mit Leichtigkeit ein großes und vielseitiges Repertoire pflegte. 

Ich erinnere mich – und niemand, der dabei war, wird diesen Abend je vergessen – an sein Antrittskonzert im Dezember 1980, bei dem er Ravels „Gaspard de la nuit“ und Liszts Sonate h-moll wie aus dem Moment heraus erschuf, besonders aber an die kleine A-Dur-Sonate von Franz Schubert (D 664), die so vermeintlich harmlos den Abend eröffnete, um dann im langsamen Satz in die klangliche Unendlichkeit einzutauchen. 

Ich erinnere mich an eine wilde, berauschend bunte „Napoli“-Suite von Francis Poulenc, Liszts „Csardas macabre“, der wirklich wie die Beschwörung der Hölle klang, an die für mich bis heute auf einsamer Höhe stehende Darstellung der Rachmaninowschen Corelli-Variationen – und ich habe meine Hausaufgaben durchaus gemacht, ich verfüge über fast alle Aufnahmen dieses Werks! – , denen er in überlegener Weise formale Logik verlieh, ohne dabei jemals an musikalischem Schwung oder  musikalischer Freiheit einzubüßen.

Die Cellosonaten von Beethoven, die er mit meinem Vater am Cello mit soviel Temperament wie inniger Versenkung interpretierte.

Nicht zuletzt Joseph Haydn, dem er den „Säulenheiligen“ gründlich austrieb, den er mit großem Witz, Verve und steter Begeisterung spielte.

Das 4.Klavierkonzert von Beethoven, daß er mit bezwingender musikalischer Intensität erfüllte und, natürlich, das aufwühlende Urerlebnis des Konzerts für die linke Hand von Ravel, daß ich nie wieder in dieser überwältigenden Mischung aus klanglicher Gewalt, pianistischem Können und musikalischem Zauber gehört habe.

Nicht nur bekanntes fand sich im Repertoire: Die konzertanten Divertimenti von Hans Vogt – nach ihm ist der Saal im Altbau benannt, er war hier lange Kompositionsprofessor –  seien hier genannt, die Rapsodia sinfonica von Joaquin Turina oder  – damals ein viel obskureres Werk als heute – das Klavierkonzert von Antonin Dvorak. Bis heute bekomme ich beim Gedanken an das Hauptthema aus seinen Händen eine Gänsehaut!

Doch all dies ist Schall und Rauch gegen den Klavierabend, der Paul Dans letzter werden sollte, bei dem er im frisch renovierten Hans Vogt-Saal Schuberts letzte Sonate in B-Dur und Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ spielte.

Zu erklären, in welcher Weise Paul Dan in der Schubert-Sonate an diesem Abend an letzten Dingen rührte, gliche dem Versuch, einen Kometen mit einem Schmetterlingsnetz einzufangen. Nie wieder – auch nicht bei einem Sokolov oder Richter, dem ich noch einige Male umblättern durfte – habe ich solche Klänge aus einem Flügel kommen hören, alleine der Übergang in die Durchführung des ersten Satzes war, als bliebe die Zeit für einen sehr, sehr langen Moment einfach stehen. 

Das Erlebnis dieses Abends hat mich selbst am Klavier sehr lange von Schubert ferngehalten – solche Höhen schienen ohnehin unerreichbar, doch das lange Warten hat sich gelohnt, kann ich doch heute an Schubert mit einer durch lange Jahre gewachsenen Gewißheit heran gehen, auch hier also wieder ein pädagogischer Erfolg auf sehr lange Sicht…..

Ich bin dankbar, daß ich diesen Abend erleben durfte, der mich im innersten berührt hat wie wirklich kein anderes Konzert seitdem, und unendlich dankbar für all die Musik, die ich durch ihn kennen und lieben lernen durfte.

Nach all diesen Jahren, für mich persönlich kann ich frei nach Uwe Johnson sagen: „Heute achtunddreißig Jahr“, möchte ich mich bei Paul Dan jedoch nicht nur bedanken, sondern ich möchte mich mit großem Respekt tief vor ihm verneigen mit einem Werk, mit dem sich ein besonderes Erlebnis verbindet:

Ich kam eines Tags in den Unterricht in der alten Heidelberger Hochschule – herrliche, große, immer angenehm temperierte Räume! – und fand Paul Dan am Klavier. Er übte ein mir völlig fremdes Werk, welches ich keinem Komponisten zuordnen konnte, daß mich jedoch in seiner ganz ungewöhnlichen Andersartigkeit völlig gefangen nahm, mich vor Begeisterung atemlos machte: Enescus 2.Suite Op.10.

Nachdem ich in einer monatelangen Suchaktion an die Noten gekommen war – wir reden von den 80ern, es gab noch kein Internet – schrak ich zunächst vor den enormen Anforderungen des Werks zurück. Erst Jahre später wagte ich mich daran, doch bis zum heutigen Tag kann ich die Klänge nicht vergessen, die Paul Dan mit größter Hingabe aus dem keineswegs hervorragenden Instrument zauberte. 

Hören sie also genau den Satz, den ich damals zum allerersten Mal hörte :

(Georges Enescu, Suite Nr.2 Op.10, 4.Satz Bourrée)

Bye, Geoffrey!

Geoffrey Tozer: Zum Tod eines grossen Pianisten.

Vor kurzem stiess ich in der Online-Ausgabe des „Australian“ auf einen Artikel von Stuart Rintoul: „The life and death of Geoffrey Tozer“. 

Tief betroffen las ich den traurigen Nachruf auf einen Mann dem das Leben schwer fiel und auf einen Pianisten, der wohl auch vielen seiner 

Kollegen ein Fremder, eine Randerscheinung blieb. Warum?

Zunächst die Biographie:

Geoffrey Tozer wurde 1954 in Indien geboren, kehrte als vierjähriger in die australische Heimat zurück und zeigte bald ein ungewöhnlich starkes musikalisches Talent.

Mit 9 Jahren trat er zum ersten Mal mit einem Orchester auf und führte bereits als zwölfjähriger (!) die 5 Beethoven-Konzerte öffentlich auf.

Nach Erfolgen auf internationalen Wettbewerben stürzte er sich ins weltweite Konzertleben und erlebte 1988 mit der Veröffentlichung der Klavierkonzerte von Nikolai Medtner seinen grossen internationalen Durchbruch.

Etwa zu dieser Zeit stiess auch ich zum ersten Mal den Namen Geoffrey Tozer und kaufte mir die CDs.

Welche Offenbarung! Zum einen natürlich die Entdeckung völlig zu Unrecht vergessener Konzerte der Spätromantik – welche Meisterwerke die 3 Konzerte von Medtner sind war damals beileibe noch nicht Allgemeingut, die Aufnahmen von Nikolai Demidenko, Dmitri Alexeev oder Geoffrey Douglas Madge kamen erst Jahre später und die alte Michael Ponti-Aufnahme des 3.Konzerts war schwer zu beschaffen.

Der Geniestreich des 1.Konzerts etwa, in dem Medtner sämtliche Formprinzipien nicht nur über den Haufen wirft sondern neu erfindet. Das ernste 2.Konzert, in dem Klavier und Orchester eng verzahnt miteinander um das thematische Material kämpfen, oder das glänzende, extrovertierte 3.Konzert.

All dies interpretiert von einem hervorragenden Orchester (Philharmonia), einem kompetenten Dirigenten (Neeme Järvi) und eben von Geoffrey Tozer, der in den folgenden Jahren bei Chandos in dichter Folge Platte um Platte herausbringen sollte, fast immer mit ungewöhlichem, eher am Rande liegenden Repertoire: Die Werke für Klavier und Orchester von Respighi, das 3.Konzert von Tschaikowsky, Konzerte von Rimsky-Korsakov, Roberto Gerhard und Rawsthorne, Klavierwerke von Busoni und Bartok und, natürlich, von Medtner, für Tozer eine Lebensaufgabe.

So nahm er neben 2 CDs mit Liedern, den Klavierkonzerten und den ersten zwei Violinsonaten (mit Lydia Mordkovitch) praktisch das gesamte Soloklavierwerk von Nikolai Medtner auf.

Diese Aufnahmen begleiten mich seit langer Zeit auf meinem iPod und immer wieder entdecke ich neues darin und kann nicht aufhören zu staunen: Über die komplexen Meisterwerke eines Komponisten, der bis heute ein Geheimtip geblieben ist und über seinen Interpreten.

Welch ein Wunder etwa die Aufnahme der beiden Sonaten Op.53: In der ersten (Sonata Romantica), noch eine der häufiger von Pianisten aufs Programm gesetzten, überrascht Tozer mit grosser emotionaler Zurückhaltung und bringt gerade auf diese Weise das Werk zu grosser Wirkung. 

Die zweite Sonate (Sonata minacciosa) zeigt einen verwandelten Pianisten: Tozer spielt, als ginge es um sein Leben. Gegensätze treibt er bis ins Extrem, so sehr er den Flügel in den langen virtuosen Strecken an die Grenzen seiner klanglichen Möglichkeiten treibt, so sehr berühren die lyrischen Passagen an der Grenze des Verstummens.

Dies vor allem war eine Qualität Tozers: Nie wirkt etwas nur gleichgültig heruntergespielt, immer ist eine Aussage in seinem Spiel zu hören, eine verletzliche innere Stimme die insbesondere in den leisen, lyrischen Passage aufs tiefste berührt.

Alles in allem eine Aufnahme die jeder Pianophile gehört haben sollte, nicht nur wegen des Pianisten sondern auch wegen des Repertoires, denn nirgendwo anders kann man Medtner in solcher Vollständigkeit hören.

Geoffrey Tozer starb nach einer langen Zeit des Rückzugs vom Podium im Oktober 2009 in Melbourne, im Alter von nur 55 Jahren .

Uns bleiben Seine Aufnahmen, das Vermächtnis eines ebenso unangepassten wie aussergewöhnlichen Musikers.

An dieser Stelle endete mein ursprünglicher Artikel, denn lange, sehr lange habe ich gezögert, meine persönliche Bekanntschaft, ja, vielleicht sogar Freundschaft mit Geoffrey Tozer zu offenbaren. Doch denke ich, es wirft zehn Jahre nach seinem Tod ein noch helleres Licht auf den großen Musiker, der er war.

Im Winter 2001 klingelte es Abends plötzlich unerwartet an der Tür des sehr abgelegenen Hauses in Schottland, in dem ich mit meiner damaligen, 2006 viel zu früh verstorbenen Lebensgefährtin lebte, wenn ich nicht in Deutschland war.

In der Tür stand ein sehr nasser und sehr durchgefrorener Mensch, den ich im ersten Moment nicht einmal erkannte: Der Pianist Geoffrey Tozer.

Begegnet waren wir uns in der vorangegangenen Woche in einem Notengeschäft in London, in dem wir verblüfft feststellten, beide auf der Suche nach entlegenem Randrepertoire zu sein („You‘re really looking for….Sorabji?“) – Pianisten unter sich. 

Nach einer Tasse Tee gegenüber tauschten wir Adressen aus, wohl beide in dem sicheren Gefühl, damit nur der Form Genüge getan zu haben.

Und nun stand er da, müde und genervt von der Suche nach der Adresse („Wo zum Teufel liegt dieses Haus eigentlich? Im Niemandsland? Ist Schottland schon unabhängig?“), die damit endete, dass ihn ein Ortskundiger mit dem Auto mitnahm, und sehr hungrig.

Hungrig, wie ich später merken sollte, nicht nur nach der Gott sei Dank gut bestückten Küche, sondern hungrig auch nach Musik. Denn so einsam das Haus auch lag, an Instrumenten mangelte es nicht und plötzlich war das Haus von Klängen erfüllt, die ich schon von CDs kannte, aber noch nie live gehört hatte: Klaviermusik von Nikolai Medtner.  Doch welchen müden Nachklang des wahren Geoffrey Tozer hatte ich gehört!

Das erste, dass ich warnahm, war sein Klang: Voll, rund und brillant, doch zugleich immer sensibel und fragil, als sei er sich seiner selbst nicht ganz sicher.

Selbst im explosivsten fortissimo war immer eine zweifelnde Zurückhaltung zu spüren, nie wurde eine Passage nur um der billigen Brillanz willen gespielt, immer war ein suchender Geist zu hören.

Sehr schnell kam in mir die Frage auf: Warum muss dieser grosse Pianist, der das Klavier wie nur ganz wenige zum Klingen bringt, so hart für seine Karriere kämpfen? 

Ganz und gar lassen sich solche Fragen im Musikbusiness nie klären und ich wollte auch im Gespräch nicht zu sehr in ihn drängen, doch ist durchaus ein Muster darin zu erkennen, dass große Musiker oft nicht unbedingt gut darin sind, ihre Karriere konsequent voranzutreiben.

Der Kaiser von Atlantis, oder: Ein naiver Mensch?

Der Kaiser von Atlantis, oder: Ein naiver Mensch?

Einleitung zur Uraufführung der Dokumentation der szenischen Aufführung in Ludwigshafen

von Kai Adomeit

Zunächst einige Zitate, in chronologischer Reihenfolge:

„Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“

(Bibel, 2. Brief des Paulus an die Thessaloniker)

„Wir, wir Deutschen, waren besser als die anderen, freier im Denken, reiner im Fühlen, ruhiger und gerechter im Handeln. Wir, wir Deutschen, waren das wahrhaft auserwählte Volk“

(Viktor Klemperer, „Curriculum vitae“)

„Wollt ihr den totalen Krieg?“

(Joseph Goebbels, Sportpalastrede, 1943)

“Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Sozialdemokrat.

Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.”

(Martin Niemöller)

„Hätte ich von den Schrecken in den deutschen Konzentrationslagern gewusst, ich hätte Der große Diktator nicht zustande bringen, hätte mich über den mörderischen Wahnsinn der Nazis nicht lustig machen können“

(Charlie Chaplin, Autobiographie)

„Wenigstens zwölf Jahre anständig gelebt“

(Hermann Göring, bei seiner Verhaftung 1945)

„So laut schlägt das Gewissen des Westens nicht, dass darunter die Waffenexporte litten“

(Hanns Dieter Hüsch 1986)

“Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen” […] “Nur wer arbeitet, soll auch essen.” 

(August Bebel 1883, undFranz Müntefering am 9. Mai 2006 in der Bundestagsfraktion der SPD zum geplanten „SGB II-Optimierungsgesetz“)

„Eichmann war von empörender Dummheit“

(Hannah Arendt)

 Meine persönliche Begegnung mit Viktor Ullmann liegt tatsächlich schon 30 Jahre zurück: Während meiner Studienzeit veranstalteten die Musikhochschulen in Baden-Württemberg das Festival „Den Opfern der Gewalt“ das all die Werke ins Gedächtnis zurückrief, die mit ihren Schöpfern den Weg in die Ghettos und Konzentrationslager gingen.

Hans Krasa, Gideon Klein, Pavel Haas, Miloje Milojevic, Albéric Magnard erlebten ihre musikalische Wiedergeburt und fassunglos musste man zur Kenntnis nehmen, welche musikalischen Schätze hier zu heben waren.  

Eine herausragende Rolle spielten aber auch damals schon Erwin Schulhoff, dessen Jazz-Etüden für Klavier kurz vorher beim Festival in Lockenhaus wie eine Bombe eingeschlagen hatten und eben: Viktor Ullmann.

Ein besonderes Problem damals: Es gab keine gedruckten Ausgaben. 

In diesem Sommer nun begegnete ich in Mannheim dem 2015 verstorbenen Dirigenten Israel Yinon, der mir einen Stapel Kopien in die Hand drückte: Viktor Ullmanns sieben Klaviersonaten.

Die ersten vier im Eigenverlag herausgegeben, die letzten drei jedoch Manuskriptkopien aus Theresienstadt auf immer schlechter werdendem Papier, kaum les- und entzifferbar.

Ich gestehe, dass mir die Bedeutung dieser Werke damals entging, auch das Ullmann-Revival der folgenden Jahre, am Leben gehalten durch den damaligen Rektor der Stuttgarter Musikhochschule Konrad Richter, ging weitgehend an mir vorbei.

In den folgenden Jahren gab die Decca noch eine CD-Reihe zum Thema „entartete Musik“ heraus, Opern wie „Der gewaltige Hahnrei“ von Berthold Goldschmidt oder „Das Wunder der Heliane“ erlebten ein kurzes Revival, aber im Grunde genommen ging man wieder zur Tagesordnung über.

Warum?

Nun, zunächst war da immer das Problem der Aufführungsmaterialien: Viele Werke waren rasch vergriffen und wurden nicht mehr neu aufgelegt, die Aufführungsrechte in Deutschland waren teuer, die Besetzungen dem Entstehungsort entsprechend exotisch und die Werke selbst teils sperrig, teils von haarsträubender Schwierigkeit.

Doch zurück zum „Kaiser von Atlantis“.

Zunächst einige Worte über den Komponisten: Viktor Ullmann wurde 1898 im früheren Österreich-Ungarn geboren. Beide Eltern konvertierten schon vor seiner Geburt um katholischen Glauben, sein Vater wurde im ersten Weltkrieg bis zum Oberst befördert und in den Adelsstand erhoben.

Früh wurde er, ein begabter Pianist, Kompositionsschüler von Arnold Schönberg. Mit 21 Jahren verließ er Wien und ging nach Prag, wo er sich unter der Anleitung von Alexander Zemlinsky als Komponist und Kapellmeister am Prager neuen deutschen Theater weiterentwickelte.

Seinen Durchbruch als Komponist erlebte er Ende der 20er Jahre. Lieder und insbesondere die Variationen Op.3 über ein Thema von Arnold Schönberg für Klavier machten seinen Namen schlagartig bekannt.

Nach Zwischenspielen als Kapellmeister in Zürich und Betreiber einer antroposophischen Buchhandlung in Stuttgart, musste er 1933 Deutschland verlassen und kehrte wieder nach Prag zurück, wo er seine erste große  produktive Schaffensphase erlebte.

Zahlreiche erfolgreiche Werke enstanden und wurden aufgeführt, ein eigener Personalstil im Spannungsfeld zwischen den üppigen Fin de siècle-Klängen Zemlinskys und der strengen Schule Schönbergs entwickelte sich.

Im Sommer 1938 hielt sich Ullmann drei Wochen in Dornach auf. Sein Versuch, in der Schweiz Fuß zu fassen, scheiterte allerdings nicht an der mangelnden Hilfsbereitschaft des Goetheanums, sondern an der restriktiven Schweizer Einwanderungspolitik, die ihm Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis verweigerte.

Im März 1939 wird Prag von Hitler besetzt. Ullmann kann noch im Sommer 1938 in London der Aufführung seines 2. Streichquartetts beim IGNM-Fest beiwohnen, er kann ein letztes Mal Dornach besuchen, die damalige Uraufführung von Goethes Faust aufnehmen, sogar ein kurzfristig anberaumtes Konzert bestreiten.

Ohne Erfolg bemüht er sich um Emigration. So gerät er in größte und bedrohliche äußere Schwierigkeiten, doch sein Schaffensdrang ist ungebrochen. Er organisiert (verbotene) Hauskonzerte, ist nach wie vor als Musikpädagoge tätig, gibt eine große Anzahl eigene Kompositionen im Selbstverlag heraus, unter ständiger Gefahr entdeckt zu werden, und es entsteht eine Vielzahl von weiteren Werken.

Seine zu spät begonnene Suche nach Auswanderungsmöglichkeiten bleibt ohne Erfolg.

Am 8. September 1942 wird Ullmann nach Theresienstadt deportiert. Dort wird er „Leiter der Sektion Musik der Freizeitgestaltung“, für die er – zusammen mit Gideon Klein, Pavel Haas und Hans Krása – komponiert und organisiert. Dort gründet er auch ein „Studio für Neue  Musik“.

Viktor Ullmann im Sommer 1944:

„Theresienstadt war und ist für mich Schule der Form. Früher, wo man Wucht und Last des stofflichen Lebens nicht fühlte, weil der Komfort, diese Magie der Zivilisation, sie verdrängte, war es leicht, die schöne Form zu schaffen. Hier, wo man auch im täglichen Leben den Stoff durch die Form zu überwinden hat, wo alles Musische in vollem Gegensatz zur Umwelt steht: Hier ist die wahre Meisterschule. Ich habe in Theresienstadt ziemlich viel neue Musik geschrieben, meist um den Bedürfnissen und Wünschen von Dirigenten, Regisseuren, Pianisten, Sängern und damit den Bedürfnissen der Freizeitgestaltung des Ghettos zu genügen. Sie aufzuzählen scheint mir ebenso müßig wie etwa zu betonen, dass man in Theresienstadt nicht Klavier spielen konnte, solange es keine Instrumente gab. Auch der empfindliche Mangel an Notenpapier dürfte für kommende Geschlechter uninteressant sein. Zu betonen ist nur, dass ich in meiner musikalischen Arbeit durch Theresienstadt gefördert und nicht etwa gehemmt worden bin, dass wir keineswegs bloss klagend an Babylons Flüssen saßen und dass unser Kulturwille unserem Lebenswillen adäquat war; und ich bin überzeugt davon, dass alle, die bestrebt waren, in Leben und Kunst die Form dem widerstrebenden Stoffe abzuringen, mir Recht geben werden.“

Ullmann war überzeugter Antroposoph und glaubte bis zum Schluß an das Gute im Menschen.

Am 16.Oktober 1944 wurde er, wie auch seine Komponistenkollegen Pavel Haas und Hans Krasa („Brundibar“) nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Bis zur Deportation erreichte seine Werkliste die Opuszahl 41 und enthielt u.a. vier Klaviersonaten, zwei Streichquartette, Liederzyklen nach verschiedenen Dichtern, Opern, ein Klavierkonzert und ein Saxophonkonzert. Der größere Teil dieser Werke ist verschollen; die Manuskripte gingen wahrscheinlich während der Besatzungszeit verloren.

Erhalten blieben 15 Drucke seiner zwischen 1936 und 1942 entstandenen Kompositionen, die Ullmann im Selbstverlag herausgegeben und einem Freund zur Aufbewahrung anvertraut hatte. Sie sind heute im Besitz der Karlsuniversität Prag.

Die Werke, die Ullmann im KZ Theresienstadt schuf – die Oper „Der Kaiser von Atlantis“, ein Streichquartett, drei Klaviersonaten, Liederzyklen übergab er in Theresienstadt seinem Freund, dem Literaturwissenschaftler Emil Utitz. 

Dieser konnte sie nach der Befreiung nach London mitnehmen. Von dort kamen sie nach langen Jahren endlich in den Besitz des Goetheanums Dornach. Ab den frühen 1990er Jahren sind sie, nach schwieriger Urheberrechts-Klärung, im Musikverlag Schott Mainz verlegt worden, sind teilweise sogar als Download erhältlich – moderne Zeiten!

Ullmann schuf drei Opern: „Der Sturz des Antichrist“ (1935), „Der zerbrochene Krug“ nach Kleist Op.36 und eben „Der Kaiser von Atlantis, oder die Tod-Verweigerung“.

1975 wurde der „Kaiser“ in Amsterdam uraufgeführt, in einer bearbeiteten Fassung, die sich nach dem Klavierauszug der letzten Probe in Theresienstadt richtete: Zahlreiche Kürzungen, Umstellungen und insbesondere Textänderungen legen den Schluss nahe, dass versucht wurde, die Oper selbst um den Preis der Verstümmelung aufzuführen. Die Schere im Kopf, der Versuch, den Text unverständlich zu machen ist deutlich zu erkennen. Zur Uraufführung kam es trotzdem nicht, das Werk wurde abgesetzt. 

1989 unternahm die Neuköllner Oper den ersten Versuch, die Originalgestalt des Werks wieder herzustellen, bis kurz darauf anhand eines originalen Rollenbuchs aus Theresienstadt eine Fassung erstellt werden konnte, die den Absichten des Komponisten wohl am nächsten kommt und so auch bei Schott verlegt ist.

Ullmann schrieb den „Kaiser von Atlantis“ für die Instrumente, die ihm zur Verfügung standen: Ein Streichquintett, Flöte, Oboe, Klarinette, Trompete, Saxophon, Schlagzeug, Tenor-Banjo/Gitarre, Klavier, Cembalo und Harmonium.

Ausserdem sechs Sänger, von denen einer eine Doppelrolle spielt.

Die Oper, deren Text von Ullmanns jungem Mithäftling Peter Kien stammt – zum Zeitpunkt der geplanten Uraufführung war er erst 24 Jahre alt, auch er wurde 1944 in Auschwitz ermordet –  ist nun etwas ganz besonderes. Seien Sie darauf gefasst, Dinge zu hören und zu sehen, die Sie nie wieder auf einer Opernbühne hören und sehen werden.

Der „Kaiser von Atlantis“ ist reinste, konzentrierte Musik, ohne jeglichen überflüssigen Flitter, ohne Verzierungen und Schnörkel, genau wie das Libretto. 

Peter Kiens Text muss im Kriegsjahr 1943 wie reine Wehrkraftzersetzung gewirkt haben:

König Overall der Einzige(!), „Ruhm des Vaterlandes, Segen der Menschheit, Kaiser beider Indien, Kaiser von Atlantis, regierender Herzog von Ophir und wirklicher Truchseß der Astarte…..“ und ich bin nach lange nicht fertig! erklärt den totalen Krieg aller gegen alle und rühmt seine Vertrautheit mit seinem Aliierten, dem Tod. 

Die Musik dazu wird Ihnen vertraut vorkommen: Es handelt sich um das Deutschlandlied, aber keine erste Strophe, kein „Deutschland über alles…“, keine Sorge!

Die bekannte Melodie wird nach Moll verfremdet und scheint den Text eher zu konterkarieren, als zu unterstützen.

Der Tod, der kurz zuvor auf sein glorreiches Dasein seit Anbeginn der Zeiten zurückgeblickt hat, fühlt sich verhöhnt und herabgesetzt und kündigt seine Zusammenarbeit mit den Menschen auf: Ab sofort kann kein Mensch mehr sterben.

Das mag wie die Erfüllung eines alten Menschheitstraums klingen, beim zweiten Hinsehen aber erweist es sich als die größte nur denkbare Katastrophe: Mitten im Krieg „ringen Tausende mit dem Leben, um endlich sterben zu können.“

Overall ordnet Hinrichtungen an, die vollzogen werden – und vollkommen sinnlos sind, weil die Gehenkten einfach nicht sterben können!

In einem Versuch, wie man heute sagen würde, Fake News zu schaffen, erklärt König Overall, er habe seinen Soldaten das Geheimmittel des ewigen Lebens geschenkt……….aber es ist umsonst, die Soldaten erkennen die Sinnlosigkeit ihres Tuns und beginnen aufeinander zuzugehen…

Das Sujet der Tod-Verweigerung taucht übrigens 50 Jahre später nochmals an ganz unerwarteter Stelle auf, in Terry Pratchetts Fantasy-Roman „Alles Sense“.

Weil Gevatter Tod (genau so, wie man sich die Figur vorstellt, Knochenmähre, Umhang, Sense) sich plötzlich die Sinnfrage stellt, schicken ihn seine Auftraggeber, die Revisoren, in den Ruhestand und er selbst wird sterblich. Er nutzt seine verbliebene Zeit, um endlich zu erfahren, was es bedeutet, Zeit zu haben – und sie gegebenenfalls zu verschwenden. 

Mittlerweile zeitigt die Abwesenheit des Todes unangenehme Nebenwirkungen: Die Lebensenergie alles Verstorbenen staut sich an und beginnt die Welt des Unbelebten zu durchdringen. Hosen laufen ihren Besitzern davon, Sofas machen sich selbständig, Nägel und Schrauben verweigern den Dienst. 

In einem epischen Sensenduell mit dem neuen Schickimicki-Tod, der mit einer polierten Krone, Blitz und Theaterdonner zum High Noon erscheint…..aber ich will Ihnen das Lesevergnügen nicht nehmen!

Auch Peter Kien verzichtet keineswegs auf Humor:

Harlekin: Ich wechsle die Tage nicht mehr täglich, seit ich‘s mit dem Hemd nicht tun kann und nehme nur einen neuen, wenn ich frische Wäsche anziehe

Tod: Dann musst Du ja tief im vorigen Jahr stecken

Oder auch:

Tod: (zu Harlekin) Du bist kaum dreihundert Jahre alt, und ich mache dieses Theater mit, seit die Welt steht………Du hättest mich sehen sollen!

Die Musik……Viktor Ullmann hat eine Parabel an der Grenze zwischen Kurzoper und Nummernrevue geschrieben, verfolgt jedoch einen ganz klar erkennbaren musikalischen Plan: Jede Figur hat ihr eigenes Motiv, welches sie durch das ganze Werk begleitet.

Doch vermeidet Ullmann hier die offensichtlichen Klischees: Overall klingt eher verzweifelt als herrschaftlich und der Tod hat mehr als nur eine kleine Schwäche für Foxtrot und Swing!

Schließlich, in einer grotesken Parodie von Musik und Text:

„Schlaf, Kindlein schlaf: Ich bin ein Epitaph.“

Für mich selbst einer der Höhepunkte, mitten im Stück, die Arie des Bubikopf, deren musikalische Begleitung fast stillzustehen scheint:

Ist‘s wahr, daß es Landschaften gibt,

Die nicht von Granattrichtern öd sind?

Ist‘s wahr, daß es Worte gibt,

Die nicht schroff und spröd sind

Ist‘s wahr, daß es Wiesen gibt,

Die voll Buntheit und Duft sind

Ist es wahr, daß es Berge gibt, die blau von strahlender Luft sind?

Es sei daran erinnert: Geschrieben von einem 24jährigen, der der sicheren Vernichtung ins Auge blickt.

Schließlich, nachdem die Situation sich auf das äußerste zugespitzt hat und die Kommandoketten beginnen, zusammenzubrechen, bietet der Tod an zurückzukehren, stellt jedoch, bevor er versöhnt sein wird,  eine Bedingung:

Overall muss als erster den neuen Tod sterben……

Ich würde gerne noch ein wenig auf die Produktion eingehen, die ich nicht nur während der Orchesterproben, sondern auch durch einige der vorhergehenden szenischen Klavierproben begleiten durfte.

Mir war die Existenz des „Kaisers“ schon lange bekannt, das Werk selbst hatte ich ein einziges Mal zuvor durch die Decca-Aufnahme gehört, aber nicht wirklich wahrgenommen.

In den Proben nun traf mich die Musik in Verbindung mit den Texten wie ein Hammer! Eine Offenbarung in Tönen!

Mag sein, daß ich da sehr dünnhäutig bin, da meine eigene Familie von den Nazis fast völlig vernichtet wurde, aber ich habe auch bei meinen Kollegen wahrgenommen, wie sie während der Proben mehr und mehr in den Bann des Werks gerieten. 

Das ist keineswegs selbstverständlich, auch der Musikerberuf besteht durchaus hin und wieder aus Routine oder, auch dies, mühevoller Auseinandersetzung mit einem ungeliebten Werk. 

Doch ich glaube, ich kann auch für meine Musikerkollegen von der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz sprechen wenn ich sage: Diese Produktion war etwas ganz besonderes, ein berührendes, aufwühlendes Erlebnis, bedingt auch durch den ungewöhnlichen Spielort.

Natürlich auch durch die Zusammenarbeit mit dem großen Theatermann Hansgünther Heyme: Es war ein echtes Erlebnis, das Zusammentreffen von Können, Wissen und Kreativität in seiner geduldigen, konzentrierten Regiearbeit mitzuerleben, Ausgangspunkt ehrlicher Bewunderung und – auch dies! – tiefer persönlicher Bewegung.

Die Fünf und die Fünfundneunzig Prozent

Die Fünf und die Fünfundneunzig Prozent

Zum Thema Musik und Moral

Es ist eine mittlerweile ganz alltägliches Phänomen: Eine der grossen Kulturinstitutionen (Museen, Theater, Orchester…) legt ein ganz besonders „fortschrittliches, modernes“ Programm vor um junge Leute anzusprechen, neue Publikumsschichten zu gewinnen, kurz: Um relevant zu bleiben.

Dabei muss die Frage, die wirklich im Raum stehen sollte doch wohl diese sein: Wie ist es möglich, dass all diese Institutionen der Ansicht sind, sie müssten um Relevanz in der heutigen Gesellschaft kämpfen?

Wie konnte es soweit kommen, dass antisemitische Rapper, deren Texte aus Beschimpfungen und Hassparolen bestehen Millionen von Fans haben, während diejenigen, die die großen Meisterwerke der Geschichte lebendig und im Bewusstsein halten, immer mehr glauben ins Abseits zu geraten und ihre Existenz rechtfertigen zu müssen?

Ein Punkt, an dem anzusetzen ist, ist gewiss dieser: Die immer weiter nachlassende Vermittlung kultureller Bildung durch die Schulen. 

Der Musikunterricht in den Schulen ist in den letzten 30 Jahren immer mehr zu einem exotischen Randfach verkommen, dessen Zugehörigkeit zum Bildungskanon immer mehr in Frage gestellt wird, dessen Notwendigkeit in Zeiten der ohnehin zeitlich ineffektiven Ganztagsschule immer mehr in Frage gestellt wird.

Doch wie kann man einerseits, wie es viele Politiker tun, die immer mehr um sich greifende Verrohung der Kinder und Jugendlichen in Deutschland beklagen, nach immer härteren Strafen und einem immer weiter wuchernden Überwachungsstaat rufen und gleichzeitig den Kindern immer mehr die Bildungschancen entziehen?

Zum einen ist es eine durch zahlreiche Untersuchungen erwiesene Tatsache, dass der Bildungerfolg in Deutschland vor allem von der Dicke des Portemonnaies der Eltern abhängt, zum anderen ist der positive Einfluss von Musik, von Musikhören und, vor allem: Von Musik selber machen seit langem eine Binsenweisheit.

Was aber passiert? In manchen Bundesländern fallen bis zu 80 Prozent der Musikstunden aus, oder werden von unqualifizierten Lehrern gegeben.

Zusätzlich wird den Kindern durch die Ganztagsschule auch noch die Möglichkeit genommen, nach der Schule eine Musikschule zu besuchen, insbesondere im ländlichen Raum, wo noch zusätzliche Fahrzeiten anfallen.

Nicht zuletzt ist es offensichtlich der Wille der Politik, die Musikschulen in Deutschland immer weiter auszuhungern. Viele Lehrer müssen dort unter absolut unzumutbaren räumlichen wie finanziellen Bedingungen arbeiten, immer in der Angst, ihre Schule werde ihre Stelle doch noch einsparen müssen.

Dies ist keineswegs eine auf kleine, finanzschwache Kommunen beschränkte Beobachtung. Gerade die großen Städte, die immer Millionen für teure Prestigeobjekte zu haben scheinen, kürzen gerne an der musikalischen Bildung ihrer Kinder und verschärfen damit noch mehr die Tatsache, dass Musikunterricht immer mehr ein Privileg der Besserverdienenden wird.

Somit wird den Kindern also einerseits durch die Ganztagsschule ein ungemein wichtiges Moment der sozialen Bildung, die Familie nämlich, entzogen.

Andererseits wird ihnen aber auch die Möglichkeit gegeben, sich intensiv mit Musik, mit Klängen, mit der Erlernen eines Instruments auseinanderzusetzen, obwohl der positive Einfluss auf die emotionale wie persönliche Entwicklung gerade in der Kindheit seit vielen Jahren wissenschaftlich belegt ist!

Wen verwundert es da wenn Kinder, deren soziale wie musikalische Sozialisierung zu großen Teilen auf dem Schulhof stattfindet, fast schon automatisch den Weg des geringsten Widerstandes gehen.

Denn welche Musik wäre einfacher zu konsumieren als, um beim Beispiel zu bleiben, die offenbar in fünf Minuten auf dem Computer zusammengeklickten Simpel-Beats eines Farid Bang?

Worin liegt denn der große Erfolg einer Helene Fischer? Doch nicht in der (nicht vorhandenen) komplexen Kontrapunktik ihrer Lieder, sondern, abgesehen von einer wirklich meisterhaften Bühnenshow, in ihrer einfachen Konsumierbarkeit.

Darum ist ihr Name auch in aller Munde, ist mittlerweile geradezu zum Synonym für deutschen Schlager geworden.

Interessant war es, die öffentlichen Stellungnahmen nach dem ECHO-Skandal zu sehen: Während die Institutionen der Pop-und Rockindustrie, die Musikindustrie, die Lehranstalten und deren Vertreter offenbar hofften, die Angelegenheit aussitzen zu können – wenige Ausnahmen wie Campino (…über dessen Texte man sich durchaus streiten könnte…) oder Marius Müller-Westernhagen (…auch er diskutabel, mindestens für „Dicke“…) seien hier rühmend angeführt – ging ein Sturm der Entrüstung durch die Netzwerke der klassischen Musik, zahlreiche Echos landeten im Mülleimer, große Namen wie Barenboim oder Thielemann nannten das Kind endlich beim Namen, denn auch der Vorwurf des Antisemitismus sollte anfangs vom Tisch gewischt werden.

Wie dies?

Es scheint, dass sich in den Reihen der klassischen Musiker ein sehr hoher Prozentsatz von Überzeugungstätern findet, von Musikern, die aus echter Überzeugung ihrer Profession nachgehen, im Grunde nur sehr peripher am Markterfolg interessiert.

Dies mag nach einer sehr egoistischen Einstellung klingen, doch definiert sich die Kunst nicht gerade durch ihre völlige Freiheit den Strömungen der Zeit gegenüber? Ist es nicht die Beschreibung der Kunst an sich, immer nach neuem zu suchen ohne Rücksicht auf das was gerade opportun wäre?

Waren die Künstler nicht einst diejenigen, die den Puls der Gesellschaft veränderten? Bach, der die Musik aus der Kirche holte, Beethoven, der sämtliche gesellschaftlichen Konventionen aufbrach? Goethe, Schiller, Kant, die – jeder in seiner Weise – der Gesellschaft ihre moralischen Scheuklappen vors Gesicht hielten?

Wäre es nicht allerhöchste Zeit dafür, dass die klassische Musik ihren Elfenbeinturm verlässt und den Versuch unternimmt, wieder für 95 Prozent der Gesellschaft jenen bestimmenden Platz einzunehmen der momentan von rappenden Gestalten mit wilden Bärten beziehungsweise von Helene Fischer eingenommen wird, anstelle nur für einen elitären Bezirk von 5 Prozent eine Rolle zu spielen?

Was spricht eigentlich dagegen, auch in Stadien und Arenen zu spielen? Die Tontechnik ist längst soweit, ein Orchester auch unter solchen Umständen gut klingen zu lassen und das Konzertformat als solches längst alltäglich.

„Bach to the People“ hat es Friedrich Gulda genannt – und es schon vor langem selber durchexerziert, in einem Konzert, in dem er als Ersatz für eine ausgefallene Vorgruppe eine halbe Stunde Open Air als Opener für Randy Newman spielte – und zwar nicht etwa seine eigenen Jazzkompositionen, sondern – Mozart!

Ich habe vor Jahren mit einem damaligen Besucher des Konzerts gesprochen, der den Abend so zusammenfasste: „Mehrere Tausend mehrheitlich junge Leute halten 30 Minuten atemlose Andacht bei tief berührender Musik. Der Newman hat es danach sehr, sehr schwer gehabt….!“

Und vor allem: Was spricht dagegen, dass sich die klassischen Musiker wieder in die Alltagsdebatte einmischen? 

Musik an sich, gerade Musik vom Rang einer h-moll-Messe trägt einen großen moralischen Anspruch in sich, eine Suche nach Vollendung und Frieden.

Gerade im Licht der Vorgänge um den ECHO im April 2018 wäre es doch an der allerhöchsten Zeit, die Deutungshoheit über die Musik wieder aus den Händen derer, die in Musik nur Mittel zum Zweck sehen, nur ein Wirtschaftsgut das gute Umsätze generiert, zurückzuholen.

Musik ist die einzige universelle Sprache, die alle Menschen von Geburt an sprechen. Jeder Mensch versteht Musik, jeder auf seine ganz einzigartige Weise.

Es sollte also die Rolle der Musiker sein, die Musik zu jedem Menschen zu bringen, ganz besonders aber zu den Kindern, denn die Kinder sind schliesslich unsere Zukunft!

Natürlich kann dies nur gelingen, wenn die Politik endlich begreift dass die Musik eben kein Kostenfaktor ist, sondern vor allem dies: Ein kategorischer Imperativ.

Und dieser kategorische Imperativ sollte auch bestimmend sein für alle Musiker, denn auch wenn es anfangs schwer fallen mag: Wir sind in der Lage, den Menschen etwas zu geben, das ihr ganzes Leben verändern kann, wir müssen es aber auch ganz klar öffentlich formulieren und uns klar gegen all jene positionieren, die mit ihrer „Musik“ nur Hass und Gewalt in die Herzen bringen, nur ein Ziel im Sinn: Den Geldbeutel ihrer Zuhörer.

So ganz unschuldig sind die Klassiker und Jazzer allerdings auch nicht am Untergang des ECHO: Es war natürlich einfacher, sich in seinen jeweiligen Elfenbeintürmen zu verbarrikadieren als Stellung zu beziehen dazu, dass da draußen die Welt untergeht – musikalisch gesehen. 

Dass die Preise denselben Namen tragen und von der Öffentlichkeit als ein und derselbe ECHO verstanden werden, war rückblickend der große Geburtsfehler des Preises. 

Mit ausbaden müssen ihn jetzt auch die Klassiker, weil wir dem Pop in den letzten Jahren die Deutungshoheit über die Musik in D überlassen haben, uns nicht eingemischt haben in öffentliche Debatten sondern uns damit begnügt haben, zuhause den Trophäenschrank abzustauben. 

Es ist an der allerhöchsten Zeit, dass die klassische Musik sich selbst wieder als allgemein gesellschaftlich relevant begreift, ihren bequemen Elfenbeinturm verlässt, nicht nur um wieder zurückzukehren ins allgemeine Bewußtsein, sondern eben auch um wieder als eine moralische Institution begriffen zu werden, die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht nur hilflos zusieht, sondern sich diesen wo nötig mit aller Kraft entgegen stellt. 

Natürlich müssten auch die Feuilletons ihre Rolle dabei ganz neu definieren. Eine Wende zum besseren kann nur gelingen, wenn all diejenigen die mit der Musik zu tun haben – Musiker, Ausbildungsstätten, Sendeanstalten, Musikindustrie, Träger in Stadt, Land und Bund, Presseorgane – ihrer Verantwortung der Musik gegenüber wieder gerecht werden.

Es ist notwendig, bei allem berechtigten Stolz auf das selbst erreichte niemals die Selbstkritik ganz auszuschalten, ebenso wie die ehrlich bewundernde, aber auch kritische Betrachtung des Tuns anderer.

Das soll keineswegs den Weg in eine wie auch immer geartete Zensur bedeuten! Die Kunst ist frei und soll es immer bleiben!

Aber es wird Zeit für eine kritische Betrachtung, was der klassischen Musik denn das Ankuscheln an den Rock, den Pop, den Jazz eingebracht hat?

Haben all die mit viel Liebe und Arbeit auf die Schienen gesetzten Crossover-Projekte wirklich die Sinfonieorchester, die Solisten, die Opernhäuser mehr ins Bewusstsein der jungen Generation gebracht?

Meine persönliche Beobachtung ist eher die, dass die klassischen Teile solcher Programme eher abgesessen werden und dann ein Aufatmen durch das Publikum geht, wenn endlich der Rock und der Pop ihre Stimme erheben.

Dies soll keine Herabsetzung dieser Musik bedeuten! In Rock und Pop sind genau wie in der Klassik große Meisterwerke entstanden, es stellt sich aber die Frage, ob diese durch die Kombination miteinander nicht eher leiden als gewinnen?

Würde es der Respekt den Werken gegenüber nicht gebieten, dem Publikum diese ohne weitere Komplikationen durch verwirrende Programme zu präsentieren?

Ich bin, um ein Beispiel zu nennen, dem Nationaltheater Mannheim dankbar dafür, dass es mich durch seine „Vespertine“-Adaption dazu animiert hat, die CDs wieder aus dem Schrank herauszusuchen und mich mit der so ganz eigenen Musik Björks zu befassen.

Doch ist dies nicht ein Hinweis darauf, dass es öfter als bisher der Erinnerung an Meisterwerke der Vergangenheit bedarf?

Und wenn es schon des Hinweises auf die Berühmtheit Björk bedarf, warum wird der klassischen Musik dann immer mehr die Möglichkeit genommen, die Kinder bereits in der Schule oder noch früher zu erreichen?

Warum höre ich, wenn ich im Radio (Antenne wie Internet) herumzappe so viel Mainstream-Pop?

Ich habe nichts gegen Popmusik, ganz im Gegenteil!

Aber ich habe etwas gegen die Indoktrinierung unserer Jugend, dagegen, dass ihr vorgeschrieben wird, welche Musik sie gut zu finden hat, bevor sie überhaupt weiss was es alles gibt. Wer hört denn in der jungen Generation noch, was früher „Weltmusik“ genannt wurde?

Und selbst dann möchte ich nicht, dass mir der Rundfunk oder – auch das – Spotify, Apple Music und andere Streaming-Dienste immer das gleiche Menü vorsetzen.

„Kinder, schafft neues!“ sagte Richard Wagner und so möchte ich immer neues entdecken und nicht immer die ewig gleichen „Anderen, die …. hörten, gefällt auch…“ -Listen sehen, so schmal ist Musik nicht!

Auch die Klassik ist nicht frei davon: Möchte ein Künstler ein bekanntes Werk aufnehmen, heißt es oft „Das gibt es schon 127mal am Markt“. 

Mag sein, aber vielleicht möchte das Publikum gerade diesen Künstler mit gerade diesem Werk hören, wer weiß? Außerdem: Wenn unser Publikum sich stetig erneuern soll, warum scheuen wir dann vor Wiederholung zurück?

Das Publikum heute (2018) ist ein völlig anderes als das vor 10 Jahren und auch die heutigen Konzertbesucher möchten die 5.Symphonie von Beethoven hören, ja, wir werden sie überhaupt nur erreichen, wenn wir immer wieder an die großen Meisterwerke der Klassik, auch der zeitgenössischen, erinnern!

Nur dann wird es der klassischen Musik meiner festen Überzeugung nach gelingen, wieder eine größere Rolle im Leben der Menschen von heute zu spielen, vielleicht sogar wieder die Rolle, aus der sie sich durch Rock und Pop  immer mehr hat drängen lassen!

Alltag und Ideale

Wenn wir jung sind, brennt unser Geist, brennen unsere Träume und Wünsche mit der Intensität einer Lötlampe.

Dann beginnt der Ernst des Lebens: Studium, Praktikum, die erste Stelle und – vielleicht – das erste eigene Unternehmen oder die erste Chefstelle.

Wir stürzen uns in die Arbeit und finden uns doch mit einem Mal an einem Punkt, an dem es nicht mehr weitergeht, an dem das Ende aller Ideen gekommen ist und wir nur noch den grauen Alltag zuende bringen, gefangen in den Zwängen des alltäglichen Weiterlebens und der Verantwortung für uns und andere.

Doch bleibt eine leere Stelle in uns, eine unerfüllte Sehnsucht, denn wir haben unseren Traum verloren.

Wir vergessen vor lauter Alltagsgeschäft, in die Zukunft zu schauen. Wir denken von Tag zu Tag, planen von Monat zu Monat und entwerfen Ideen von Vierteljahr zu Vierteljahr – aber wir vergessen darüber unsere großen Ideen, mit denen wir einst angetreten sind, die Welt zu verändern.

Wir sind so sehr damit beschäftigt, Geld zu verdienen um die Büromiete, die Steuern, das nächste Auto zu bezahlen, dass wir uns selbst und unsere Ideale unter einem großen Haufen von Entschuldigungen begraben.

Wir begraben Entschlüsse unter einem Berg von Konferenzen und Meetings, auf denen sie von Bedenkenträgern und Erbsenzählern solange zerredet werden, bis aus einer brillanten Idee ein farb- und geschmackloser Brei geworden ist.

Aber irgendwann kommen wir an einen Punkt, an dem unsere Träume und der farblose Brei einander ausschließen, an dem die eine Entscheidung zuviel getroffen wird, die eine Tür zuschlägt.

Und es ist genau diese eine Tür, deren Sich-schließen wir rückblickend am meisten bedauern – und auch am meisten bedauern sollten.

Ich will ein Beispiel nennen: Als Steve Jobs den Gedanken hatte, der zur Entwicklung des iPod führte, existierten nicht eimal alle dafür notwendigen Technologien.

Wäre Jon Rubinstein, von Jobs beauftragt, nicht zufällig über eine neu entwickelte Mini-Festplatte gestolpert, für die deren Hersteller keine rechte Verwendung hatte, hätte der iPod vielleicht nie das Licht der Welt erblickt.

Hätte Jobs nicht wochenlang das Designteam um Jony Ive mit immer neuen Wünschen fast in den Wahnsinn getrieben, wäre das ikonische Design – und wer kommt bei einem Alltagsgegenstand ausgerechnet auf die Farbe Weiß? – vielleicht so nie entstanden.

Jobs war ein Pedant, eine Nervensäge und, wie ich selbst miterleben durfte, der Inbegriff der Ungeduld. Aber seine visionären Ideen, sein Perfektionswahn haben die Welt verändert.

Und was die Marktforschung betrifft: Die hat Apple den Ruin vorausgesagt, als das iPhone auf den Markt kam…..

Wir müssen endlich aufhören, unsere Ideen, unsere Träume einer Gesellschaft unterzuordnen, die alles und jedes nur dem Diktat der Märkte und der Marktforschung unterwirft, die längst Moral durch Gier ersetzt hat und anstelle dessen eben dieser Gesellschaft den Spiegel vorhalten und ihr zeigen, was sie versäumt, wenn sie über Ideen lacht, die weit in die Zukunft weisen!

Wir müssen den Tunnel verlassen, in dem wir leben und dessen Wände uns, je länger wir uns in ihm bewegen, als die Grenzen des Machbaren erscheinen.

Denn wo die Grenzen sind, bestimmen wir selber, nicht jene, die glauben zu wissen, wo es langgeht.

Wir müssen aufhören, etwas zu versuchen anstatt es einfach zu tun. Wir müssen aufhören, uns dem „comme il faut“ zu unterwerfen und wir müssen auf die Menschen zugehen, ihre Herzen mit Freude füllen, anstelle ihnen das Gefühl zu geben, ständig überfahren oder ausgenutzt zu werden.

Denn sonst werden wir zu geistlosen Drohnen werden, die immer den einfachen, bequemen Weg gehen und verlernt haben, solange mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, bis diese nachgibt.