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50mal „Nachts in der Philharmonie“ – Ein Gespräch

Dieses Gespräch mit James Clark (Malibu Times) war eine Überraschung und fand völlig unvorbereitet am 23.Mai 2020 statt

JC: Kai Adomeit, 50 mal „Nachts in der Philharmonie“ – ist jetzt, da die ersten Corona-Lockerungen Hoffnung machen, das Ziel erreicht?

KA: Einerseits ja, andrerseits definitiv nein! Ja, weil ich es geschafft habe, mich seelisch über die bleierne Zeit zu retten, indem ich mich in die Musik und ins Üben gestürzt habe, nein, weil ich Geschmack an dieser Form der musikalischen Selbstdisziplin gefunden habe.

JC: Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen?

KA: Nicht durch Corona! Eine ganz ähnliche Idee hat mich schon seit längerem beschäftigt, aber ich fand nie die Zeit oder die Kraft, wirklich zu beginnen…..

JC: ….weil Sie beruflich so stark eingebunden sind?

KA: Definitiv. Ich habe im letzten Jahr sehr viel im Orchester gespielt, auch Projekte, für die ich sehr viel arbeiten musste und kam einfach nicht dazu, etwas für mich selbst zu tun. Im April diesen Jahres hätte das alles in einigen so anstrengenden wie wundervollen Projekten – unter anderem einer Aufführung des fünften Brandenburgischen Konzerts von Bach auf dem Klavier unter der Leitung von Michael Francis – kulminieren sollen – dann kam Corona……

JC:….das Sie vorausgeahnt haben? Stimmt das?

KA: Natürlich nicht!

Aber Sie wissen ja, dass ich seit vielen Jahren in der Apple-Entwicklergemeinde unterwegs bin. Die Nachrichten, die schon im Dezember aus China kamen, liessen keinen anderen Schluss zu als den, dass da eine potentielle Katastrophe auf uns zurollt.

JC: Und in dem Moment wussten Sie, wie „Nachts in der Philharmonie“ aussehen würde?

KA: Das wusste ich schon lange davor! Seit letztem Herbst wird der philharmonische Probensaal umgebaut und ich hatte immer geplant, während der Auslagerung des Orchesters Musik im Foyer zu machen, um dem Publikum zu signalisieren: „Das Orchester kommt bald zurück und selbst jetzt wird es nicht ganz still im Haus!“ Aber ich kam einfach nicht dazu!

JC: …und dann kam im März die Zwangspause?

KA: Ja. Zwei Wochen lang fühlte ich mich etwa so, als wäre ich in voller Fahrt frontal in eine Betonwand gefahren. Alles war wie mit Blei beschwert. Und dann fielen plötzlich alle Puzzlesteine in meinem Kopf in der richtigen Reihenfolge zusammen!

JC…und Sie fingen an, aufzunehmen!

KA: Fast. Die technischen Voraussetzungen hatte ich schon länger in der Hand, allerdings musste ich das Format noch entwickeln – einige bei Tag aufgenommene Videos waren optisch arg reizlos – und mich um die Instrumente kümmern.

JC: Gibt es denn in der Philharmonie Ludwigshafen keine Flügel?

KA: Oh, ganz im Gegenteil! Aber das Konzertinstrument des Orchesters, ein Steinway-Konzertflügel, war ziemlich verstimmt und mein eigenes Instrument, ein Schimmel K 230, hatte gerade neue, sehr harte Hämmer bekommen.

JC: Das heisst?

KA: Ich musste zunächst einen Stimmer finden, der in der Krise arbeitet, da sowohl mein üblicher wie auch der Stimmer der Philharmonie beide schon rein vom Alter in die Hochrisikogruppe fallen – anfangs galten ja vor allem Männer über 50 als extrem gefährdet, das Risiko geht man nicht ein, nur, weil man gerne seinen Flügel gestimmt hbekommen würde!
Dann musste ich die Hämmer in meinem eigenen Instrument im Schnelldurchgang weichklopfen in der Hoffnung, möglichst bald einen Techniker zu finden, der sich dann mit der Intonation der Hämmer beschäftigen würde.
Darum werden Sie in den ersten 20 Videos feststellen, dass ich nicht nur ein anderes Instrument spiele, sondern dieses auch anfangs noch etwas verstimmt ist.

JC: Sie mussten also mitten in der Krise auch noch investieren?

KA: Das ist das falsche Wort. Je mehr ich spiele, umso häufiger brauche ich natürlich den Stimmer. Und die neuen Hämmer waren schon lange geplant, das „schlechte“ Timing war schlicht purer Zufall.

JC: Ich würde gerne auf das ungewöhnliche Repertoire eingehen, dass Sie aufnehmen. Ich habe sie ja in den USA mehrmals gehört, da ist mir diese Vorliebe für Miniaturen und Raritäten so nicht aufgefallen.

KA: Nun, die Vorliebe für versunkenes Repertoire hatte ich immer! Und was die Miniaturen betrifft: Ich hatte schon lange einen Programmentwurf mit dem Titel „Auch kleine Dinge können uns entzücken!“ aufgeschrieben, jetzt kann ich ihn in ganz anderer Weise umsetzen.
Ausserdem: Ich habe die Zeit nicht, die Videos aufwendig zu schneiden und nachzubearbeiten, normalerweise nehme ich einfach mehrere Takes auf und hoffe, einen verwendbaren dabeizuhaben, was die Länge der Stücke etwas beschneidet, denn wenn Sie jedes Stück in einem Durchgang ohne Inserts aufnehmen, wird schon eine Chopin-Ballade zu einem Marathon – ich arbeite aber daran, versprochen!

JC: Sie machen also die Aufnahmen ganz alleine? Wie darf ich mir das in der praktischen Umsetzung vorstellen?

KA: Nun, für ein Aufnahmeteam fehlt mir wirklich das Geld!
Ich habe ein sehr gutes Mikrofon (Shure MV 88), das ich auf mein iPhone 11 stecke. Dieses kommt mit einem Adapter auf ein Stativ, dann bestimme ich die Perspektive, indem ich den richtigen Abstand zum Flügel suche.

JC: Und dann gehen Sie jeden Abend in die Philharmonie?

KA: Ich gestehe: Ich schummle ein wenig. Alle paar Tage setze ich mich hin und nehme mehrere Stücke auf, das macht auch die Übedisposition einfacher.

JC: Und wie kam es zu Bach?

KA: Ja…….(lange Pause)…..Bach ist für mich der größte Komponist aller Zeiten. Ich liebe seine Musik sehr, vielleicht mehr, als mir selbst bisher klar war.
Aber gleichzeitig ist seine Musik für mich mich einem schweren persönlichen Kummer belegt, einem Schmerz, den ich über viele Jahre mit mir herumgetragen habe.
Nun spiele ich ja, wie Sie wissen, überhaupt nicht mehr von gedruckten Noten, sondern nur noch vom iPad, will sagen, ich habe all meine Noten immer mit mir. Eigentlich wollte ich im Vorgriff auf meinen für die Spielzeit 20/21 geplanten Beethoven-Zyklus einige Stücke von Beethoven heraussuchen, nun liegt Beethoven alphabetisch sehr nahe bei Bach….

JC: ….und da stiessen Sie auf die Inventionen!

KA: Richtig! Vor denen hatte ich schon als Kind einen Heidenrespekt, so sehr, dass ich nie mehr als zwei gelernt habe.

JC: Sie haben nur zwei Inventionen gespielt?

KA: Richtig! Ausserdem eine Partita, zwei Präludien und Fugen, eine halbe französische Suite und die Goldberg-Variationen.

JC: Und warum jetzt ausgerechnet die Inventionen?

KA: Weil die mich zwingen, zu arbeiten! In keinem anderen Werk der Literatur wird soviel innere Selbstdisziplin verlangt, wie in diesen so einfach klingenden Stücken.

JC: Kai Adomeit, wie geht es nun weiter? Mit „Nachts in der Philharmonie“ und allem anderen?

KA: Nun – das Leben geht weiter! Zunächst natürlich einmal mit den nächsten 50 Stücken – aufgenommen habe ich tatsächlich schon bis Nummer 63 – und dann immer weiter. Es gibt nichts gesünderes, als so zum Üben, zum immer neuen Entdecken verpflichtet zu sein!

JC: Und „live“?

KA: Live geht es bald wieder mit den Kollegen von der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz weiter, zunächst nur in kleiner Besetzung, aber hoffentlich eines nicht zu fernen Tages auch wieder alle zusammen – schliesslich muss ich irgendwann auch mal wieder ans Geldverdienen denken!

JC: Das heisst, „Nachts in der Philharmonie“ ist Ihr Privatvergnügen?

KA: Aber ja! Niemals hätte ich ein solches Projekt unter der Vorbedingung des Müssens angefangen, gerade durch die totale Freiheit wurde das erst möglich.
Es ist für mich schon ein großes Privileg, unter diesen luxuriösen Bedingungen arbeiten zu dürfen, ich bin sehr dankbar dafür und geniesse das sehr!

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„Auf jeden Fall müssen wir eine Gesellschaft bleiben“

Ein Gespräch mit Beat Fehlmann

„Auf jeden Fall müssen wir eine Gesellschaft bleiben“

Ein Gespräch mit Beat Fehlmann, seit dem 1.9.2018 Intendant der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz 

Dieses Interview wurde zwischen dem 11.Februar und dem 2.Mai 2019.in Ludwigshafen/Rhein geführt.

Beat Fehlmann spricht ein ungemein reiches, sehr individuell gefärbtes, idiomatisches Deutsch. Die Bedächtigkeit, mit der er formuliert täuscht, denn der Reichtum seiner Sprache, sein Wortschatz lässt selbst Muttersprachler zum Duden greifen.

Ich habe versucht, die Eigenart seiner Ausdrucksweise, die Komplexität seiner Gedankengänge soweit möglich unverändert zu dokumentieren. 

Kai Adomeit: Worin unterscheiden sich eigentlich Deutscher und Schweizer Humor? 

Und: Ist es wahr, dass die Schweizer so calvinistisch-diszipliniert sind, dass sie sich niemals langweilen?

Beat Fehlmann: Mit dem Humor, da weiß ich nicht, was der Unterschied ist. Ich glaube, es gibt auf beiden Seiten definitiv Humorlosigkeit, die ist in beiden Ländern verbreitet und ich glaube, das ist in beiden Fällen schade. 

Ich weiß es tatsächlich nicht.

Mit der Disziplin: Ich glaube schon, dass das eine Rolle spielt, aber das ist so ein Lebensgefühl, so eine Art, die schon vieles durchdringt, aber das geht noch weiter als nur um emsiges Arbeiten oder auch nicht: Es ist auch diese Art von Zurückhaltung, dass man nicht nach aussen stellt, was man ist, was man hat und die andere Seite ist der Zweifel, der immer mitschwingt. 

Etwas was wir Schweizer glaube ich nicht gut können ist: „Ich“ sagen. Das können Deutsche viel besser. 

Es gab ja eine Zeitlang in der Schweiz etwas wie ein „Deutschland-Bashing“, ich glaube, das ist vorbei – so meine Wahrnehmung – und ich glaube, dass viele darunter gelitten haben, dass Deutsche mit einer Selbstverständlichkeit Dinge so hinstellen können während wir immer noch parallel mitdenken: „Ja, aber es gibt natürlich auch noch die andere Perspektive“. Es fällt uns dann schwer, das abzustellen, führt aber dazu, dass wir viel seltener sagen: „Ja, das ist aber so und so und das machen wir jetzt so!“ 

Das führt natürlich ein bisschen dazu, dass man glaube ich nicht immer sicher ist, ob das dann auch eine Durchsetzungskraft hat, dass man also trotz des Zweifels zielorientiert vorgehen kann, vielleicht nicht zielgerichtet im Sinne von: „Wir schlagen jetzt hier die Schneise und mir ist es egal, jetzt geht es hier durch“, sondern eher „..kann ja sein“. Da ist dieses Relativieren, man kann sich nie sicher sein, dass das nicht in der Kommunikation manchmal auch hindert, das im „so ist es!“ nicht jeder weiss: „naja gut, also…“.

Ich glaube, das war so ein Problem für eine gewisse Zeit, dass man so in dieses Dilemma kommt: „Soll ich jetzt auch vereinfachen?“, weil es so wahrgenommen wird, „Soll ich das jetzt ausblenden? Aber ich denk doch das automatisch mit!“

Ich glaube, dass wir uns etwas besser daran gewöhnt haben, vielleicht auch besser geworden sind, ich weiss es nicht.

Auf der anderen Seite funktioniert genauso ja letzlich unser System, nicht so stark im polaren ich bin links, Du bist rechts, damit vertrete ich diese Richtung. 

Auf den ersten Blick ist dass ein bisschen langweilig, aber ich glaube, es ist am Ende des Tages doch ziemlich effizient, weil es, ganz ohne das zu verklären, etwas schafft: Verantwortung zu übernehmen.

Ich habe da eine gute Geschichte, als ich neu in Deutschland war, hatten wir damals in der Schweiz eine Abstimmung wo es darum ging, soll man die Anzahl der regulären Urlaubswochen von vier auf fünf erhöhen. Und dann sagten alle: „Na das ist doch ein klarer Fall“ und ich: „Nein, das ist überhaupt kein klarer Fall!“. –  „Wieso, alle wollen doch mehr Urlaub?“ – „Nein, wir überlegen uns natürlich auch: Hohe Löhne, sind wir dann noch marktfähig, was heißt das dann für die Wirtschaft, können wir dann noch bestehen?“

Und die Reaktion war auf beiden Seiten doch typisch – die Abstimmung ist übrigens so ausgegangen, dass wir nur vier Wochen haben – weil sich die Leute nicht getraut haben.

Das ist vielleicht dieses Calvinistisch-Zwinglianische, diese protestantische Ethik, Max Weber in Reinkultur, etwas, das das Denken ganz stark durchdringt und sich dahingehend doch sehr unterscheidet.

KA: Ich lese regelmässig zwei Schweizer Zeitungen, die NZZ (Neue Zürcher Zeitung), die ja doch sehr wertbürgerlich ist und die Weltwoche (BF lacht), die ja für schweizerische Verhältnisse doch geradezu die Revolution ausruft. Ich finde das Spannungsfeld zwischen den beiden interessant, zu sehen, wie selbst in der Weltwoche Roger Köppels „Raus aus der sozialistischen EU“ durch Kommentare seiner Redakteure immer wieder relativiert wird, wie er selbst gerade das sogar ausdrücklich anerkennt.

BF: Die „Wochenzeitung“ wäre noch das andere, um das zu ergänzen, das ist dann das linke Spektrum.

Die Weltwoche ist letztlich eine Witznummer. Aber leider auch ernstzunehmen. Das ist ja das Problem, die sind ja nicht doof. Aber eben hochgradig manipulativ.

„Ich habe keine Mühe, einen Umweg zu machen, wenn es dessen bedarf.“

KA: Um vielleicht beim Schweizer noch ein bisschen zu bleiben: Führt Beat Fehlmann seine ja doch sehr beeindruckende innere Ruhe auf seine Herkunft zurück? Also das, was man von aussen merkt. Ich hänge die zweite Frage gleich dran: Ist Beat Fehlmann wirklich ein so ausgeglichener Charakter, wie er es nach aussen hin kommuniziert, oder kocht es ganz tief in ihm weißglühend?

BF: Also, ich glaube nicht, dass es kocht, im Sinne von brodeln, oder, dass das aktiv unterdrückt wird. Das glaube ich tatsächlich nicht. 

Also, die Ruhe, das sind ja zwei Aspekte: Das eine ist, dass die Leute oft denken, nur weil ich langsam spreche, dass ich länger denken muss…..

KA: Das meinte ich gar nicht! Ich denke, sehr viele Kollegen nehmen wirklich eine sehr große grundsätzliche Gelassenheit wahr.

BF: Ja, aber ich glaube, das ist tatsächlich etwas, das ich gut kann. Ich habe das Gefühl…wenn wir zurückkommen wollen zu diesem Begriff, dann glaube ich, dass ich zielorientiert bin, aber nicht zielgerichtet. 

Ich habe keine Mühe, einen Umweg zu machen, wenn es dessen bedarf. Ich habe nicht Angst, die Kraft oder Orientierung zu verlieren. Ich habe auch nicht Angst davor, mal ein Ziel aufzugeben, wenn es Erkenntnisse gibt, die neu oder anders sind, das passiert nicht so oft, aber es passiert. 

Aber ich habe nicht Angst davor, dass man so nicht immer ans Ziel kommt und dass es manchmal auch diesen Umweg braucht, weil die Konstellation so ist. Das ist etwas, was mich nicht verunsichert und wo ich nicht das Gefühl habe, dass ich da etwas aus den Augen verliere. 

Da kann man natürlich jetzt ganz leicht diesen Bogen schlagen und in die Metaphorik des in den Bergen unterwegs seins einsteigen. Das ist natürlich auch einfach, weil man Schweizer immer gerne mit Bergen verbindet, das aber tatsächlich ein wichtiger Teil meiner Kindheit und Jugend ist, ich sehr viel in den Bergen war. In dieser Naturgewalt kriegt man halt auch immer zurückgespielt wo man ist und das man nicht gewinnt, wenn man sich nicht schlau anstellt.

Die Natur ist immer stärker. Wir können uns darin bewegen, wir können auch auf den Gipfel kommen, aber wir müssen uns damit auseinandersetzen. 

Das ist tatsächlich etwas was ich von Kindesbeinen sehr früh immer gemacht habe und was ich auch nach wie vor tue, wenn auch nicht mehr so intensiv, so extrem wie in früheren Jahren – ich bin ein gemütlicher Wanderer geworden, auf meistens markierten Strecken, das war nicht immer so, das kann schon sein, dass mich das geprägt hat. Es ist natürlich auch ein bisschen verlockend, dass so zu greifen, weil es so gut passt, aber es ist tatsächlich auch ein wichtiger Teil meiner Sozialisierung, was mich ausmacht.

KA: Ich kann das durchaus verstehen, ich möchte das auch gar nicht profanisieren. Man steht da in den Bergen und die Natur ist so ungeheuer groß….

BF: ….das relativiert das eigene Sein…

KA: …man fühlt sich ganz klein und unwichtig….

BF: ….und das tut gut! Ich kann mich gut erinnern, das war für mich so selbstverständlich. 

Wir waren irgendwann einmal in Bremen, fast 2 Jahre, und ich war, glaube ich, in dieser Zeit nie in den Bergen und bin dann nach dieser Zeit mal dahingefahren und dann habe ich das deutlicher wahrgenommen. 

Ich habe auch viele in Bremen getroffen, die sagten „wir fahren da nicht so gerne hin, diese Pässe, das ist nicht so mein Ding, das macht mir ein bisschen Angst“. Und ich dachte: Was ist denn hier los?

Da konnte ich das zum ersten Mal nachvollziehen, wenn sich das plötzlich wieder so erhebt, wie mächtig das ist, das habe ich glaube ich so auch selten erlebt, weil das so selbstverständlich war und immer dazugehörte und ich nicht Angst sondern eine Faszination für diese Landschaft, für diese Erhebungen habe und ich es tatsächlich irgendwie schön finde da drauf zu steigen und runter zu gucken, das hat etwas erhebendes.

KA: Es gibt ein Gerücht: Stimmt es, dass Sie Schweizer Reserveoffizier sind?

BF: (lacht) Nein! 

KA: Sie haben nur den üblichen Wehrdienst hinter sich gebracht…..

BF: Genau, meine Dienstwaffe war die Klarinette. „Spiel mir das Lied vom Tod“, darüber hinaus ist es nicht gegangen.

KA: Was ja auch auf den potentiellen Feind schon sehr einschüchternd wirken kann!

BF: Genau!

KA: Eigentlich wissen wir ja gar nichts über Sie. Was wir wissen: 1974 geboren, bisher war er in Konstanz und jetzt ist er da. Woher kommt eigentlich Beat Fehlmann?

BF: Ich bin am Land aufgewachsen, in einem kleinen Dorf zwischen Basel und Zürich. Das ist das Mittelland an der Aare, ein Fluss, der dann bald in den Rhein mündet, wo ich aufgewachsen bin. Das war eine sehr behütete Kindheit mit diesen sehr kleinen räumlichen Strukturen. 

Eigentlich wollte ich immer Oboe lernen, das war mein Wunschinstrument und meine Eltern hatten das auch unterstützt, aber es war tatsächlich so: Ich hätte, um Oboe zu lernen, nach Zürich fahren müssen. Von dem nächstgrößeren Ort, mit Bus und Zug ist das in einer Dreiviertelstunde zu machen. Aber das war damals unglaublich weit weg, da ist man nicht hingefahren, oder einmal im Jahr. 

Das zeigt so die Veränderungen, Leute, die da wohnen, die arbeiten auch in Zürich, das war früher nicht so, da hat man da gearbeitet, wenn einer 20 Minuten fahren musste, dann hat man sich schon überlegt ob das sinnvoll ist. Diese kurzen Wege, diese kleinen Strukturen wo man auch gut aufeinander aufpasst, mit allen positiven und schwierigen Momenten, das hat das sehr geprägt, so bin ich aufgewachsen, sehr behütetet, in einer Welt, wo vieles auch ein bisschen vorgegeben ist und ich es immer schwierig fand – warum macht man denn Dinge, die eigentlich keiner sinnvoll findet, oder die Frage nach dem Warum keiner schlüssig beantworten kann, na dann macht mans doch auch nicht mehr, das ist so ganz typisch für so eine Welt, die so: Das macht man halt so, das machen wir alle, das haben wir schon immer so gemacht. 

Das hat auch durchaus seinen Charme, dieses aufeinander gucken, es ist ambivalent, im Sinne von man guckt genau, was macht der, aha, das macht man aber nicht, auf der anderen Seite gibt es aber auch diese Solidarität und Unterstützung, das ist halt schon ein Geflecht, das trägt und das hat auch was.

KA: Und wann hat sich dann herausgestellt, dass Sie Musiker werden wollen?

BF: Bald, ich denke mit 13 war das so ein Wunsch. Aber ich bin ja in einem eher ländlichen Umfeld groß geworden, in einer Familie mit wenig Bezug zur Musikwelt. 

Es gab lediglich einen Musiker, der ist aber relativ früh verstorben. 

Er war Solofagottist in Bern, da hatte ich noch ein bisschen Kontakt als Kind, als ich angefangen hatte mit dem Instrument, aber dann ist er gestorben und das war so der einzige, der in dieser völlig anderen Welt gelebt hat. Ansonsten hat man das geschätzt, meine Eltern haben das auch unterstützt, aber niemand wusste genau, was ist das denn eigentlich?

Die pragmatische Frage: Kann man denn davon leben, das konnte da niemand so richtig beantworten, weil man nicht wusste, was ist das überhaupt für ein Beruf, was sind das für Menschen, denn abgesehen von Lehrern hatten wir keine persönlichen Beziehungen zu dieser Welt. 

Das habe ich natürlich auch ganz deutlich gemerkt, in dem Moment wo ich dann angefangen habe an der Musikhochschule als Jungstudent, wo ich dann auch gemerkt habe – also ich war auf dem Land derjenige der gut spielen konnte, da gabs halt nicht viele – zu sehen, da gibts auch andere die gut sind, das ist das eine, aber auch zu merken, die kommen aus einem ganz anderen Kontext, die haben diese Stücke dann doch irgendwie alle mal live gehört, die ich nur von der Platte kenne, die gehen ständig in die Oper und die kennen den und den. 

In diesem Leben, in dieser Welt drin sein, das war ich halt überhaupt nicht, das war für mich fremd und so habe ich mir das dann erarbeitet, da war für mich schon vieles nicht klar, wie das geht und ich musste das irgendwie kennenlernen. 

Ich bin dann da so reingewachsen.

KA: Dann kam aber offensichtlich etwas anderes. Sie sind dann zum Studieren nach Amerika gegangen?

BF: Ja, das war eine bewusste Entscheidung. Ich fand, das größte Problem damals war, dass man das Instrument nicht zur Verfügung hatte in Europa. Damals gabs in der Schweiz einen Dirigierstudiengang der Hochschulen in Zürich, Bern und Genf, die hatten sich zusammengetan und das Diplomkonzert hat man dann entweder mit dem Orchestre de la Suisse Romande, mit dem Basler Sinfonieorchester oder mit der Tonhalle Zürich gemacht. Vorher hat man diese Orchester aber nie gesehen, nie mit ihm arbeiten können. 

Das ist im Prinzip so, als würde man einem Pianisten die Klaviatur hier auf den Tisch malen und dann macht er die Prüfung aber auf einem Steinway und er weiß nicht wie ihm geschieht und dann geht das gut – oder auch nicht. 

Das Instrument nicht zur Verfügung haben, das ist einfach ein großes Problem. 

In den USA sind die Strukturen andere, wir hatten ein eigenes Orchester für die Dirigenten, klar, das hat auch nicht allen Spielern Spaß gemacht, aber die lernen Repertoire, die lernen sich zurechtzufinden in dieser Orchesterwelt, man steht halt wirklich in der Woche mehrere Stunden vor dem Orchester und kann ausprobieren, das gehört halt einfach dazu, diese Routine zu haben und das, fand ich ist da besser gelöst. 

Das war der Grund warum ich in die USA gegangen bin, danach aber wieder zurück. Dann habe ich noch Komposition studiert in Hannover, bei Johannes Schöllhorn.

KA: Was geschah eigentlich danach, zwischen Hannover und Konstanz?

BF: Während eines Teil meines Studiums in Hannover haben wir in Bremen gewohnt. 

Sandra hat dort ihre Meisterklasse gemacht an der Kunsthochschule, sie ist Keramikerin. Da ich nur einmal die Woche nach Hannover musste, war das die beste Lösung.

KA: Und dann kam die Stelle in Konstanz?

BF: Dann kamen erst einmal zehn Jahre als freiberuflicher Musiker. So war ich unterwegs als Dirigent, Komponist und Klarinettist. Mit der Zeit hat der Wunsch, sich auf eine Tätigkeit zu konzentrieren aber zugenommen und so habe ich mich entschieden, in den Bereich der Administration zu wechseln.

Nach einer Weiterbildung an der Universität Zürich im Bereich Kulturmanagement war ich zunächst bei der Kammerphilharmonie Graubünden und bin dann nach und nach vom Musikerdasein in die administrative Tätigkeit hineingewachsen.

KA: Wo ist eigentlich der Ausgangspunkt? Was war der erste Moment, an den BF sich erinnern kann, in dem er Musik bewusst wahrgenommen hat?

BF: Das war tatsächlich ein Orchesterkonzert. Das weiss ich noch ganz genau. 

Ein amerikanisches Orchester, Cincinnati Symphony mit Jesus Lopez-Cobos als Dirigent, mit Elgars Enigma-Variationen, was sonst noch am Programm war, weiss ich nicht mehr, aber Enigma-Variationen, das ist ja eine Kitschkiste, aber schon wahnsinnig toll! Und die haben einfach sehr gut gespielt, muss man sagen, das hat mich unglaublich beeindruckt! 

Da war diese ganze Herrlichkeit da, diese Eindrücklichkeit in den Farben und in dieser Unmittelbarkeit – Großartig!

Das ist ja das brutale: Als junger Dirigent ist man voller Ideen, man weiss genau wie man es haben will, aber natürlich überhaupt nicht, wie man mit so einem Klangkörper umgeht, wie man den dahin bringt und ist teilweise auch mit Problemen konfrontiert, an die man gar nicht gedacht hat.

Das merkt man halt nur, wenn man das auch in einer gewissen Regelmäßigkeit macht. Auch schon, um nur abgebrüht zu werden, zu wissen: „Jaja, komm, das gehört jetzt halt dazu, da lass ich mich gar nicht drauf ein..“, die große Kunst ist ja in den Proben letztlich zu wissen: Wann stoppe ich diesen Zug, was tue ich dann und warum an dieser Stelle? Ich kann das erstens non-verbal regeln und habe zweitens das Vertrauen, dass das kommt, ich muss da nicht drauf hinweisen. 

Dass zu lernen, es gibt sicher Leute, die sind unglaublich begabt und haben so diesen Instinkt dafür, aber letztlich ist da halt Praxis einfach wichtig. 

Man muss vor einem Orchester stehen, viele Werke lernt man letztlich auch im Konzert.

Es gibt so viele Momente wo man plötzlich merkt, jetzt funktioniert die Form oder nein, funktioniert immer noch nicht, ich schaffs nicht, ich komm nicht an das Ding ran.

KA: Absolut. Ich denke: In der Zusammenarbeit zwischen Dirigent und Orchester drückt sich ja ganz viel, ich möchte mal sagen nicht unbedingt menschliche Zuneigung zueinander aus, aber es spielt natürlich schon eine große Rolle, wie man mit einem Dirigenten menschlich harmoniert, wie menschlich dieser Dirigent mit einem Orchester umgeht. Wir erleben das ja gerade hier in Ludwigshafen. 

Man kann von Michael Francis ja nun wirklich nicht sagen, dass er Konzessionen mache beim Dirigieren, dass er dem Orchester entgegenkäme, aber in dieser ungeheuer stringenten Art die er ja hat, diesem Können, dass er immer wieder beweist, da will das Orchester dann eben auch mitspielen, nicht weil er sonst unangenehm würde – was er nicht tut – sondern, weil er einfach so überzeugend ist!

Wie gestaltet sich eigentlich die Zusammenarbeit zwischen Intendant und Chefdirigent ganz praktisch? 

Inwiefern müssen Sie Michael Francis immer mal wieder die Träume vom Himmel pflücken, oder haben Sie eine gemeinsame Richtung gehabt, in die es von Anfang an ging?

BF:  In dem konkreten Fall war das so, dass ich ja schon etwas länger hier war als er, ein paar Wochen, und hatte so ein bisschen Gedankenvorsprung. Da haben wir uns sehr schnell darüber ausgetauscht, dass habe ich ihm auch dargelegt, was da die Überlegungen sind. 

Das hat er sich sehr genau angehört, präzise nachgefragt und dann haben wir angefangen zu bauen und gemeinsam Ideen zu entwickeln.

KA: Ich frage auch deswegen: Er war ja Orchestermusiker in England, hatte und hat eine Chefposition in den USA und eine in Schweden, wo sich ja bei allen Gemeinsamkeiten die Systeme doch sehr deutlich unterscheiden. Wie sehr mussten Sie ihn gewissermassen schubsen oder wie weit war er schon „da“?

BF: Also, ich glaube, dass hier seine Erfahrung aus den USA schon ganz zentral ist. Music Director bei einem amerikanischen Orchester ist eine sehr umfassende Verantwortung, die nicht zu vergleichen ist mit einer Chefdirigentenposition hier, geht sehr viel weiter, wo es ganz direkt darum geht: Findet das was ich tue, was ich programmiere auch eine Resonanz? 

Und zwar ganz direkt! Das merkt man natürlich schon, das prägt sein Denken. 

Ich sage immer, typisch ist in seiner Haltung eben nicht, dass er hier aufschlägt und sagt: Mich interessiert der Mahler-Zyklus, um es so klischeehaft zu sagen. 

Seine Erste Frage ist: Was brauchen hier die Menschen? 

Welche Bedeutung hat hier Musik, das ist eine völlig andere Haltung, die sicherlich genauso konsequent eine eigene künstlerische Haltung weiterträgt, aber trotzdem auch reagiert auf einen Kontext und nicht nur von sich selber ausgeht. 

Das unterscheidet ihn schon ganz stark von anderen, die dieses Metier prägen. Ich glaube, das ist sehr, sehr typisch und dass das vor allem die Erfahrung aus den USA ist.

KA: Das sehr praktische…

BF: Ich würde das nicht als praktisch beschreiben, ich glaube das ist die Ebene, dass man sich immer überlegt wir tun etwas, dass sich an jemanden adressiert und man sich um dieses gegenüber auch kümmert und dieses Gegenüber ernst nimmt, dass das bei den Überlegungen auch eine Rolle spielt. 

Nicht nur: Ich muss jetzt mein Repertoire erweitern und ich will jetzt aus irgendwelchen Prestigegründen oder damit ich die nächste  Stelle da und da bekomme hier das und das machen, ob das jetzt hierher passt, ob das jetzt die Bedürfnisse dieser Menschen oder dieser Region sind oder diese komplett ignoriert. Das ist der Unterschied!

Das würde ich nicht als pragmatisch bezeichnen, das wäre für mich nicht die richtige Formulierung! Es ist eine Haltung die sich des Gegenübers bewusst ist, 

die die Kommunikation ganz stark ins Zentrum stellt und weiss, das Kommunikation eine gegenseitige Sache ist und nie einseitig. 

KA: Wie haben Sie die Südwestdeutsche Philharmonie in Konstanz eigentlich wahrgenommen, bevor Sie dort Intendant wurden und wie war das in Ludwigshafen?

BF: Ich kannte beide Orchester vorher und Konstanz war immer so ein bisschen… aus der Schweizer Perspektive hat man ntürlich sehr genau wahrgenommen, dass das so eines der deutschen Orchester ist, das sehr präsent war am Markt. Teilweise auch im Kontext, wo man gemerkt hat, OK, das war jetzt nicht nur ideal, aufgrund der Leute, die gebucht und das verantwortet haben ,aber schon auch als ein sehr guter Klangkörper, der sehr aktiv in der Region wirkt und hier in Ludwigshafen hab ich vor allem diese Steffens-Zeit mitbekommen, vorher kannte ich das Orchester auch nicht, das war nicht so mein Fokus: Deutsche Sinfonieorchester, da habe ich mehr neue Musik gemacht.

Aber mit Steffens, ich kannte die Aufnahmen, habe ein paar Konzerte gehört, fand das immer sehr beeindruckend, mich hat das immer interessiert, dieses Repertoire was er relativ früh gemacht hat, diese Modern Times-Geschichte, das fand ich schon bemerkenswert, sehr spannend, vor allem darüber habe ich das Orchester eigentlich wahrgenommen.

KA: Inwiefern unterscheiden sich Planungen, auch langfristige Planungen in beiden Städten und was haben sie, bezogen auf die Orchester, vielleicht gemeinsam?

BF: Ja, gemeinsam haben sie, dass es natürlich immer ganz stark darum geht, sich zu überlegen, zu reflektieren und zu entwickeln, die Fragestellung nach der Funktion innerhalb der Gesellschaft. Ich finde, diese Fragestellung ist einfach eine ganz grundsätzliche. 

Und ansonsten, ja danach gehts auf die Antwortebene, geht es darum, spezifische Zugänge, spezifische Haltungen oder Antworten zu finden zu dieser generellen Frage und die sind nun mal ganz unterschiedlich, weil die Städte völlig anders sind und weil die Regionen völlig anders sind.

Im Grundsatz gibt es da völlige Übereinstimmung aber in der Ausarbeitung, glaube ich, fast keine Schnittmenge, das sind völlig andere Kontexte, andere Problemstellungen, Herausforderungen, zumindest in meinem Denken.

KA: Was mag, was bewundern Sie an der Staatsphilharmonie und wo würden Sie sich wünschen, die Staatsphilharmonie würde sich noch mehr von alten, liebgewordenen Gewohnheiten trennen können?

BF: Also ich finde, was ich ganz ausgeprägt wahrnehme ist diese Selbstverantwortung, das zeigt sich ja auch bei verschiedenen Projekten: Die Kammermusikreihe, Tag der offenen Tür, das sind ja Dinge, die gibts auch bei anderen Orchestern und die werden oft sehr ähnlich gemacht. 

Aber ich finde, hier hat das so einen Stolz, eine Wichtigkeit und so eine Ernsthaftigkeit, die ich als ganz besonders bezeichnen würde.

Also, ich glaube das ist etwas, was dieses Verantwortungsbewusstsein der einzelnen Menschen zeigt, das finde ich sehr ausgeprägt und ich finde, das ist ein Orchester, das ist durch diese Situation sehr anpassungsfähig und kann mit schwierigen Situationen ziemlich gut umgehen, so dass man es nicht hört, dass es gerade sauschwer ist.

Das ist schon etwas, das ich sehr bewundere. Dass die Konstanz in der Qualität, die die abrufen können unter unterschiedlichsten und schwierigen Bedingungen, dass das keine Selbstverständlichkeit ist. 

Das ist etwas, was da ganz stark drinsteckt und das ist eine ganz große Qualität dieses Ensembles, das ist toll und sehr bewundernswert!

Die Zöpfe, die man abschneiden sollte…

KA: …im Sinne von: Gewohnheiten, die da sind, Dinge, an die man sich gewöhnt hat, „das war schon immer so, das haben wir immer schon so gemacht“….

BF: ….es fällt mir gar nicht so viel ein, weil ich finde, dass es doch eigentlich eine große Offenheit gibt, wenn man mit Ideen kommt, ist es nicht: „Ach nein, das machen wir anders….“ Den Satz habe ich selten gehört. 

Deshalb fällt es mir jetzt auch schwer, einfach zu sagen, also das und das….muss dringend verändert werden, sonst wird das schwierig. 

Ich hoffe, dass grad auch im Bereich Qualität oder Eigenverantwortlichkeit, wenn es um Klang und Zusammenspiel geht, dass es da gelingt, dass das Orchester das noch stärker in der eigenen Hand behält und sich noch autonomer schaltet gegenüber Leuten die vorne stehen. 

Ich finde, da ist schon viel gemacht, das ist auch auf einem guten Weg, aber da würde ich dem Orchester wünschen, dass sie da noch weiter gehen können und noch unabhängiger werden, nicht um irgendjemanden da auszubremsen, ganz im Gegenteil, aber um einfach für sich so dieses Selbstverständnis und dieses Verantwortungsbewustsein das auch noch in einer ähnlichen Konsequenz noch auf das gesamtmusikalische Ergebnis übertragen kann zu haben: „Das sind wir“!

Nicht im Sinne einer Starrheit („so machen wir das!“), aber dass es so ein Selbstverständnis gibt: „drunter machen wir es nicht!“ 

Ich habe vorhin schon gesagt, die Konstanz in der Leistung ist etwas herausragendes, aber ich glaube, es könnte noch einen Schritt weitergehen und das würde ich dem Orchester wünschen, weil ich glaube, dass das viel zur Identität beiträgt, mehr nach innen als nach aussen, und ich mir auch vorstelle, dass das eine Zufriedenheit geben kann, die man aus sich selber schöpfen kann, das fände ich schön, wenn das noch ein bisschen besser gelänge, dass sich das weiter gut entwickelt, das wäre vielleicht die adäquate Formulierung.

KA: Worin besteht für den Intendanten die besondere Rolle der Staatsphilharmonie in Ludwigshafen? Wie sollte die Interaktion mit der Stadtgesellschaft stattfinden? Gerade, weil es in Ludwigshafen ja eine sehr besondere Gesellschaft ist?

BF: Ja, ich finde, wir sollten halt schon versuchen, möglichst viele Menschen nicht im Sinne von: alle, aber doch möglichst viele unterschiedliche Menschen zu erreichen. 

Ich sage immer, wenn wir die Bahnhofstrasse hinunterlaufen und die Menschen sitzen da in ihren Cafés und Läden, von Brautmoden bis Schlafzimmerausstattungen und Bäckereien bis Handyläden, sollten die wissen: „Oh, das sind die durchgeknallten von der Philharmonie, die finde ich cool!“ 

Das fände ich total schön, das ist so meine Wunschvorstellung, dass, wenn da die Orchestermusiker gemeinsam runterlaufen, wir reinwinken können und die Leute nur denken: „Ach, die….hoffentlich kommen die nicht zu uns, sonst wolllen die wieder so ne verrückte Geschichte machen“, aber dass sie eben trotzdem wissen: Ach ja, das sind die! 

Das ist so eine repektvolle Art von: Oh ,das sind die Verrückten, die guten Verrückten! Durchaus auch mit nem Fragezeichen, aber „die meinen es irgendwie schon ernst und die nehmen uns auch ernst“. 

Dass es uns gelingt, dass das wirklich auf Augenhöhe gelebt wird und wir uns auch einlassen können aufeinander, das ist ja kein kolonialistischer Gedanke im Sinne von „Wir beglücken euch jetzt mit Klassik, damit ihr die besseren Menschen werdet, das müsst ihr jetzt hören, müsst ihr jetzt verstehen und dann wird das was“ – so ist es ja nicht.

Aber ich finde, wir sollten versuchen, unsere Faszination und das, was wir damit verbinden, was wir erleben können, was viele Menschen so nicht können, das ist etwas ganz faszinierendes, ich finde, das sollten wir mit möglichst vielen Menschen teilen können, da brauchts unterschiedliche Antworten, unterschiedliche Annäherungen, aber da geht es nicht um Missionieren, das meine ich damit nicht. 

Das ist eine komplizierte Grenze, die lässt sich nicht einfach so definieren, da gibts glaube ich keine klaren Linien, aber ich finde, man muss sich dessen bewusst sein, dass es eben nicht diese „wie machen jetzt einen besseren Menschen aus dir“ – Attitüde wird.

KA: Wie haben Sie die Monate der Suche nach dem neuen Chefdirigenten erlebt? Es wurde ja im Grunde genommen nach der Entscheidung für den neuen Intendanten noch mal ein neuer Anlauf unternommen. Wie haben Sie erlebt, was vorgegangen ist? Wie haben Sie den Prozess miterlebt, was hat dieser Prozess mit ihnen gemacht?

BF: Ja, ich habe mir schon große Sorgen gemacht. Anfangs habe ich mir schon gedacht: Oh je, kann man das retten, kriegen wir das hin? 

Ich habe dann verschiedenes versucht und gemerkt, naja, das ist jetzt nicht mehr von der Spur zu bringen und ich habe gemerkt, das ist jetzt auf die Gleise gesetzt worden und läuft jetzt durch.

Eine Weichenstellung grundlegender Art war nicht mehr möglich, was ich noch tun konnte, war zu versuchen, den Zug zu beschleunigen. 

Dann gibts nämlich zwei Möglichkeiten, entweder wir rasen mit großem Erfolg ins Ziel oder das Ding fährt so gegen die Wand, das auch klar ist, dass der Zug kaputt ist.

KA: Dann gab es ja die Finalrunde mit acht Dirigenten und eben den letzten drei, die dann sich nochmals vorgestellt haben. 

Wie waren die Empfindungen, als es dann doch auf ein Ziel zulief, als allen klar war: Da sind wirklich interessante Kandidaten dabei.

BF: Ja, das war der Moment, wo ich dachte, jetzt kanns gut kommen, jetzt geht das in ne Richtung, die interessant ist und jetzt kann man drüber diskutieren und zwar auf einem vernünftigen Niveau. 

Das war natürlich erst mal entspannend und erfreulich.

Dann war das alles auch spannend zu sehen, das waren ja die ersten Konzerte, wo ich hier war, und ich hatte in dieser Übergangsphase fast keine Zeit für Konzerte. 

Ich war zwar relativ viel hier, aber ich habe ganz wenig Konzerte geschafft. Das ist natürlich besonders eindrücklich, wenn man so neu kommt, da ist auch vieles besonders und manche Dinge kann man noch nicht einschätzen: Was heißt das jetzt, wenn es in der Probe so läuft, wie ist das Konzert nachher, das war schon sehr aufregend, aber positiv. 

Ich war vor allem gespannt, wie so eine Reflexion im Orchester dann aussieht, ob es da dann eine Meinung gibt, oder wie weit diese auseinander liegen. 

Meine Erfahrung mit solchen Prozessen ist schon so, wenn man so was dann mal gemeinsam diskutiert, dass man schon oft erstaunt ist, wie weit die Einschätzungen auseinander liegen.

Wo man für sich selber denkt: Naja, das ist jetzt einfach objektiv gesetzt, das ist jetzt klar und dann merkt man aber trotzdem, dass man mit ernsthaften Menschen spricht, die eine komplett andere Meinung haben! Was denn jetzt? Warum, Wie? Das ist unmöglich, das war doch jetzt ne klare Sache? 

Das ist schon spannend! Was mach ich denn jetzt damit? Das muss man auch verarbeiten können, das war nicht einfach. 

Das einfachste wäre natürlich zu denken: Das ist jetzt einfach falsch! Aber das wäre dann der grösste Fehler, den man machen kann.

KA: Dann gab es ja doch ein sehr eindeutiges Votum für Michael Francis, danach wurde, so meine Wahrnehmung von aussen, noch recht lange über den Vertrag diskutiert, über Details, das ist ja ganz normal. 

Was ging Ihnen durch den Kopf als klar war: Jetzt ist der Vertrag fertig, jetzt wird unterschrieben und dann geht es los.

BF: Das war gar nicht so einschneidend. Das hat aber damit zu tun, dass ich das tatsächlich anders erlebt habe. Die Abwicklung ging extrem schnell, auch wenn das von aussen vielleicht nicht so ausgesehen hat, aber im Hintergrund war alles extrem effizient. Natürlich auch mit der Problematik, dass Michael in den USA war und sehr eingespannt in dieser Zeit. Trotzdem ging das sehr schnell. 

Michael war von Anfang an sehr offen und sehr ehrlich und hat sich sehr schnell mit mir verständigt. Er wusste vorher schon, dass er das möchte und sagte: „Was auch immer jetzt alles passiert, wir werden das verhandeln, aber Du musst wissen: ich will das. Wir werden einen Weg finden“. 

Wir haben parallel zu den Verhandlungen längst in Programm und nächsten Schritten gedacht. Natürlich war ich auch froh, als alles dann unterschrieben und durch war, aber das war jetzt nicht so der eine Moment….

KA:….im Grunde genommen war schon klar, er wird kommen, es ging nur noch um die Verschriftlichung….

BF:…und wie machen wir das, dass es für ihn gut ist, sinnvoll ist, das in zwei Sprachen, das macht alles noch ein bisschen komplexer, mit zwei Kontinenten, Agenturen dazwischen, aber letztlich ging es sehr effizient und unkompliziert, lösungsorientiert. 

Deswegen hatte ich nie den Eindruck: Das ging jetzt lange. Eigentlich ging das extrem schnell. 

Wir waren Mitte Oktober so weit und wir waren einen Monat später durch. 

Michael konnte einfach nicht vor dem 6. Dezember 2018 herkommen.

Das wichtigste für mich war in dem Verfahren letztlich, das Orchester mit an den Tisch zu bringen, das war Teil dieser Schnellzugstrategie. 

Ich wusste natürlich, dass ich damit ein großes Risiko eingehe, aber ich fand das wichtig und das hat ja letztlich zu dem Resultat geführt, das wir jetzt haben, dass es so eine klare Zustimmung gab. 

KA: Wie begegnen Sie eigentlich Veranstaltern, Solisten, Agenten, ihren ganz persönlichen Wünschen und Nöten?

BF: Ich bin ein lösungsorientierter Mensch, kann auch sehr klar kommunizieren – wenn es sein muss! In der Regel verstehens die Leute vorher.

KA: Was macht ein Intendant eigentlich genau? (BF lacht) 

Wie ist so sein alltägliches Verhältnis zu den Veranstaltern? 

Wie bewältigt er die Spannungen, die sich daraus ergeben, dass er sowohl der Vertreter der Musiker, wie auch der Verwaltung, wie auch des Ministerius ist, denn im Grunde gibt es da ja ein natürliches Spannungsverhältnis!

BF: Ja, das ist in diesem Orchester auch noch mal besonders ausgeprägt  und das ist glaube ich etwas vom schwierigsten und verrücktesten, was diesen Klangkörper ausmacht, was viele gar nicht so verstehen, glaube ich von aussen: Das Orchester macht einen sehr geringen Anteil an eigenverantworteten Veranstaltungen und der Rest hat mit diesen Veranstaltern zu tun, das ist schon eine der ganz spezifischen Herausforderungen, die dieses Orchester mit sich bringt. 

Es ist nicht einfach, Vertrauen muss man sich auch immer erarbeiten und teilweise gibt es ein unglaubliches Anspruchsdenken: So und so will ich das haben und da einen Weg zu finden der letztlich auch künstlerisch sinnvoll ist und nicht dazu führt, dass das Orchester jeden Abend dann doch ein anderes Programm zu spielen hat, mit einem anderen Solisten, das ist schon echt harte Arbeit und teilweise stösst man da auf Unverständnis, gerade auch wenn es zum Beispiel um Gagen von Wunschsolisten geht. 

Ich kann das auch weder dem Steuerzahler noch dem Landtag gegenüber verantworten. Das ist teilweise schwierig, eine große Herausforderung und ein Dilemma, das man nie ganz lösen kann, es ist ein Puzzle und es ist echt ganz schwierig, da eine gescheite Linie hinein zu bekommen, das ist glaube ich so ungefähr das schwierigste, was es hier so gibt. 

An vielen Orten spielen ja auch noch andere Orchester, da potenziert sich das ganze…..das ist schwierig und nicht gut für das Orchester, weil es führt zu einer unglaublichen Verengung des Repertoires oder es führt dazu, dass das Orchester unglaublich viele Programme spielen muss, was der Qualität einfach nicht zuträglich ist. Eine gewisse Flexibilität ist ja schön, aber es ist einfach unbefriedigend, unterprobt irgendwelche Dinge über die Rampe bringen zu müssen, das ist nicht angenehm.

Meine Erfahrung mit der Berühmtheit der Solisten…ich glaube, das wird komplett überschätzt. Meine Erfahrung ist wirklich eine andere: Wir innerhalb der Szene, wir kennen natürlich die Namen, aber den meisten Leuten sagt das doch letzlich nichts. Die sprechen dann an auf Beethoven und auf Mozart….

KA: Das alte Phänomen: Die 5.Beethoven geht immer…..

BF: Ja, aber bis man jemanden hat, einen Solisten, der Beethovens 5.Klavierkonzert spielt und der tatsächlich durch die Tatsache, dass er das spielt, zusätzliche Tickets verkauft, den muss man mir erst mal zeigen.

KA: Oder es ist Anne-Sophie Mutter, die man nicht bezahlen kann.

BF: Ja, klar. Aber das sind 5 weltweit……es ist ein riesiges Kombinationsspiel, das muss man halt einfach machen, dass man das so hinkriegt, das das Orchester attraktive Programme spielen kann und die möglichst oft spielen kann, das ist echt so…..da habe ich schon in viele Tischkanten gebissen.

Das ist schwierig!

KA: Wird sich denn die Staatsphilharmonie in der Zukunft auch intensiver mit Othmar Schoeck, Hans Huber (Schweizer Komponisten) und Frau Stirnimaa (Der große Hit der Schweizer Folk-Gruppe „The Minstrels“) befassen? 

BF: Ich bin nicht ein Botschafter oder Verfechter irgendwelcher lokal verorteten Musik. Kann sein, dass diese Musik eine Rolle spielt, aber ich bin kein Missionar für bestimmte Dinge, also wenn es um Komponisten geht. Mein Thema ist: Die Musik zu den Menschen. Da ist mir jedes Werk und jedes Mittel recht, um es jetzt mal auf den Punkt zu bringen.

KA: Wie funktioniert es denn, wenn die Staatsphilharmonie als mitarbeitendes Orchester eingekauft wird, zu einem Festival oder als Begleitorchester? Inwieweit nimmt der Intendant in solchen Situationen überhaupt Einfluss?

BF: Da versucht man dann zu schauen, dass Programme entstehen, die eine gewisse Dramaturgie haben und zwar so, dass das Orchester als Star aus der Nummer rausgeht, das finde ich einfach wichtig und dass das Orchester sich möglichst in einem guten Licht darstellen kann, das beinhaltet halt Besetzungen, Repertoire, Konzertwiederholungen, strategische Repertoiredisposition innerhalb der Saison, vernünftige Reisebedingungen…ich versuche immer den Weg zu finden, dass es diesem Anspruch, auch genügend Zeit zu haben, das zu liefern und das auf einem guten Niveau liefern zu können einigermassen gerecht wird. Das ist ein Geben und Nehmen. 

Und ich finde eben, das über 80 Prozent der Aktivitäten dieses Orchesters fremdbestimmt sind ist halt schon ne Riesennummer, das ist eine Herausforderung für das Orchester. 

Schwierig.

KA: Nun sind wir natürlich nicht die Berliner Philharmoniker, die diesen Luxus des eigenen Konzerthauses, die ja ganz andere Möglichkeiten der Eigenveranstaltungen haben…

BF: Klar! Aber trotzdem, ist es schon so: Für ein Staatsorchester ist das schon wahnsinnig wenig, wo man wirklich Profil zeigen kann. 

Das sieht man ja auch daran, dass man Dinge wie „Modern Times“ entwickelt hat, eben fünf solche Hämmer in zehn Tagen programmiert hat, um genau das dann eben doch noch leisten zu können.

Dass aber auch nur mit einer Komplettüberforderung des Publikums und auch des eigenen Personals, das wirkt dann zwar primär auf dem Papier, aber in der Realität eben auch nicht uneingeschränkt. 

Ich kann das aber auch verstehen, weil man letztlich eben nicht so viele Spielwiesen hat um sich klar zu positionieren.

KA: Wie begreift ein Intendant seine Autorität und wie geht er damit um? Setzt er sich eine „Intendantenmaske“ auf, sobald er das Büro betrifft (BF lacht), oder bleibt er der authentische Mensch?

BF: Ich bin nicht so ein Faschingstyp….man weiß das ja nie so genau, aber ich glaube nicht, dass ich mich verändere! 

Natürlich gibt es eine Abgrenzung zwischen Beruf und Privat, das ist ganz klar und Autorität: Ich würde sagen in 99 Prozent aller Fälle ist das klar und muss nicht nach vorne gestellt werden und dann gibt es ab und zu mal was, wo ich wirklich sagen muss: Ist jetzt so und gut. 

Aber meistens braucht es diese Verstärkung gar nicht. Ich versuche schon, ganz klar zu sein, es gibt Sachen, da kann ich auch loslassen und es gibt andere, da weiß ich ich will sie so haben.

Manchmal ist es effektiver, einen gemeinsamen Weg zu finden, auch in so einer Führungssituation, jemand das Gefühl zu geben, er hat die Lösung jetzt selber gefunden. Weil es glücklicher macht, weil es mehr Energie freisetzt und weil es auch am ehesten mal noch eine Idee dazu bringt oder einen Aspekt, der einem so nicht eingefallen wäre und das trägt ja immer zur Verbesserung der Sache bei! 

KA: Ich nehme die Gesellschaft in den USA als ungemein verroht, kalt und egoistisch wahr. Ist das eine rein subjektive Wahrnehmung, oder ist das die – wünschenswerte? – Zukunft für uns alle? Werden wir uns den Wünschen der globalisierten Gesellschaft, der globalisierten Wrtschaft auch unterwerfen müssen? Werden wir zu Drohnen, oder bin ich persönlich nur zu freidenkend?

Wohin wollen wir uns entwickeln? Sollen wir dahin kommen, dass jeder nur noch sein eigenes Feld beackert, oder sollen wir versuchen eine Gesellschaft zu bleiben?

BF: Nun, auf jeden Fall müssen wir eine Gesellschaft bleiben. Ich glaube, dass das komplizierte an der jetzigen Zeit, an der momentanen Situation ist, dass man doch sagen kann: Die Systeme haben versagt. 

Wir können nicht zurück zum Sozialismus, das funktioniert nicht und die Grenzen des marktwirtschaftlichen Denkens, die werden uns ja so vor den Kopf geknallt und ich glaube, wir erfahren und sehen ganz deutlich, dass das kein lebenswerter und wünschenswerter Zustand sein kann. 

Aber, was im Moment dieses Vakuum ist, ist warscheinlich auch das gefährliche an der jetzigen Zeit, das eine neue Systematik, ein anderes Denken noch nicht da ist, also, es ist da, es ist ja nie so, dass das nicht vorhanden wäre, aber wo es ist, es ist schwierig zu finden für die Gesellschaft. 

Ich finde, wir sollten auf jeden Fall darum kämpfen, dass die Errungenschaften der Gesellschaft, der sozialen Gesellschaft nicht verloren gehen, denn was ist die Konsequenz? Wir würden uns ein paar wenigen gigantischen Konglomeraten von Firmen ausliefern, die uns letztlich manipulieren.

Ich glaube auch nicht, dass das auf lange Frist gutgehen kann. Die Gefahr bei diesen Dingen ist  halt immer: Wie schaffen wir, das in einem politischen oder gesellschaftlichen Diskurs zu behalten ohne dass wir einander wehtun müssen? Das ist doch die große Gefahr. Schaffen wir eine Evolution oder läuft es auf eine Revolution hinaus? 

Das ist meistens nicht ohne Unmenschlichkeit vonstatten gegangen in der Geschichte, das ist für mich die grösste Sorge, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass wir ja sagen zu einem System das längst krank ist, das hat glaube ich doch ein Großteil durchschaut, dass es nichts taugt, oder nichts taugt im Sinne von einer Zukunft.

KA: Wie geht ein BF mit Krisen um? Beruflicher Art? Was macht er zum Beispiel, wenn Unruhe im Orchester entsteht? Wenn Entwicklungen, die ihn beruflich tangieren, in eine falsche Richtung laufen?

BF: (Denkt lange nach) Die Antwort fällt deshalb nicht eindeutig aus, weil es kein Rezept gibt. Ich glaube, es lässt mich auf jeden Fall nicht kalt, verdrängen ist nie eine Option. Aber die Frage ist: Wie aktiv und an welchem Punkt eingreifen? Das kann unterschiedlich sein. 

Was aber verbindend ist, dass es ein Reagieren und ein strategisches Agieren darauf gibt. Und das ich hoffe..(lacht) jetzt kommt der Schweizer….ich hoffe, dass es mir gelingt, dann doch deutlich zu unterscheiden, wo geht es jetzt um Personen, wo gehts um die Sache, also, nicht, dass die menschliche Ebene überhaupt keine Rolle spielt, Probleme lassen sich nicht nur pragmatisch lösen. 

Auf so eine Entwicklung bezogen: Wie stark hat das jetzt einfach mit mir zu tun? Geht mir das gegen den Strich, oder ist das auch eine schlechte Entwicklung für die Institution? 

Diese Abwägung, die kann schon auch mal zu unterschiedlichem Handeln führen. Da hoffe ich, dass es mir gelingt zu unterscheiden, wo ist es jetzt eine Egogeschichte, die mich persönlich trifft, aber eigentlich nichts mit der Sache zu tun hat und wo laufen wir in eine Entwicklung rein, die ich für problematisch halte und die ich nicht möchte.

Ein offensives Umgehen damit ist sicherlich wichtig. Aber was das dann in Handlung konkret heisst, das kann auch mal defensiv sein, wenn ich das Gefühl habe, dass es das Problem besser löst.

KA: Was bewegt einen, der einen so ganzheitlichen Zugang zur Musik hat wie Sie – Komponist, Klarinettist, Dirigent – ein Orchester zu leiten?

BF: Ich empfinde es als eine sehr erfüllende und spannende Tätigkeit, ein Ermöglichen. 

Mich fasziniert diese Musik, die bedeutet mir sehr, sehr viel und ich habe irgendwann in meinem Leben entschieden, dass es für mich das wichtigste ist, das möglichst viele Menschen mit dieser Musik in Berührung kommen und diese Faszination an möglichst viele Menschen übertragen werden kann.

Das kann ich in dieser Funktion glaube ich, mit den Möglichkeiten die ich habe, am besten, und deshalb tue ich das und deshalb ist es mir auch so wichtig, weil es für diese Gattung erst mal unglaublich tolle Werke gibt, die wir unbedingt immer neu lesen müssen und weil ich auch finde, dass diese Gattung auch immer noch neue Werke verdient.

Ich glaube auch, das ist eine der eindrücklichsten Formen des Musikmachens und ich glaube deshalb dass ein Orchester eigentlich sehr gut funktioniert wenn es darum geht, die Leute zu berühren mit Musik, ich glaube dass das ein Orchester sehr gut kann und dass das die große Stärke dieser Gattung ist. 

Schematisiert würde ich sagen: Das Orchester halte ich für die eindrücklichste Form der Musikpräsentation, Musikvermittlung, aber dann schwingt wieder mal so ein Wort mit, das noch was anderes meint, aber deshalb vielleicht der Wiedergabe von Musik.

Deshalb ist das ein sehr gutes Medium um das zu erreichen.

Wenn es nur um die Musik geht sind mir kleine Formen natürlich genauso lieb weil dieses intime und intensive, was in Kammermusik steckt halt auch unglaublich stark ist – aber das kann was anderes. Und Orchestermusik finde ich kann vor allem viele Menschen erreichen und berühren, und das noch direkter einfach auch durch die schiere Masse und durch die grössere Kraft noch mehr . 

Deshalb finde ich das faszinierend und deshalb finde ich das wichtig.

KA: Wenn Sie drei musikalische Wünsche hätten….

BF: Was ich mir sehr wünschen würde, wäre, dass zeitgenössisches Musikschaffen, zeitgenössisches Komponieren wieder den Weg in die Gesellschaft findet und nicht diesen Exotenstatus hat. Das sich da nicht nur eine ganz bestimmte Randgruppe interessiert und sich dieser riesige Graben von fast 100 Jahren wieder schliesst, dieser Graben von fast 100 Jahren im Sinne von dass ich das Gefühl habe, dass ein Großteil unseres Publikums, mal abgesehen von so einer begeisterten Spezies, die nach Donaueschingen und diesen Orten pilgert, dass die eigentlich komplett aufgeschmissen sind und fast nicht in der Lage sind, 100 Jahre Musikgeschichte zu adaptieren oder das in ihre Empfindungswelt, ihre Wahrnehmungswelt zu integrieren.

Das ist tatsächlich etwas, was ich mit einer gewissen großen Verzweiflung betrachte und wo ich mir wünschen würde, dass das irgendwie näher zusammengeht. 

Ich glaube schon dass es das braucht, dieses verstörende oder das Aufbrechen in neue Welten, wie heißt es so schön bei Zarathustra, dass das neue immer auf Taubenfüssen daherkommt und es da nicht so eine riesige Diskrepanz gibt.

KA: Ich frage mich einfach oft: Ich bin professioneller Musiker, habe tatsächlich hunderte von Uraufführungen zeitgenössischer Werke gespielt und wenn nicht einmal ich diese zeitgenössische Musik verstehe…

BF: Ja, das ist sehr klar, dann wünsche ich mir, dass möglichst viele Menschen die in dieser Stadt in diesem Land leben mit dem, was wir tun etwas persönliches verbinden, das es eine Bedeutung hat für möglichst viele Menschen – das ist für mich ganz zentral, dieser Wunsch.

KA: Was wäre der Traum einer Saison, ganz und gar vom Intendanten entworfen – ganz ohne Budgetzwänge?

BF: Diese Utopie ausleben, dass wirklich jeder die Chance bekommt, mit dieser Art Musik in Berührung zu kommen, das wäre schon schön, nicht?

KA: Mich beeindruckt immer wieder: Komponist, Klarinettist, Dirgent, Intendant und im Grunde in jeder musikalischen Sparte mal etwas gewesen – was prägt jemanden, der so breit aufgestellt ist, prägt sein musikalisches Weltbild, als was begreift er sich?

Natürlich begreift er sich jetzt als Intendant, aber: ist immer noch diese kreative Unruhe in ihm drin? Da ist doch eigentlich noch ein Klarinettist, ein Dirigent in ihm drin unterwegs, ein Verkannter?….

BF: Um auf diese Unruhe zu kommen, da läuft es, glaube ich, eher auf die Komponisten-Unruhe hinaus, als auf das andere, aber …..es ist wirklich überhaupt nicht so, dass ich da sitze oder stehe und höre und gucke und irgendwie denke: 

Ich müsste da jetzt ran. Wirklich überhaupt nicht. 

Aber ich glaube, dass ich immer noch ziemlich gut höre und auch die Werke noch ziemlich gut kenne und auch immer noch Partituren lesen kann. 

Das ist, glaube ich, das wichtigste, das schönste: Immer. wenn ich die Sachen wieder aufschlage und das klingt noch, das ist immer noch da, das ist schon schön…

KA: Das heisst, die eigenen Sachen oder andere?

BF: Die von anderen. Das ist schon schön, wenn man das einfach auch gelernt hat und dass das auch so bleibt…nicht mehr ganz so schnell, das ist logisch, aber ich kann das immer noch und ich höre auch immer noch ziemlich gut.

Und wenn es die Unruhe gibt, dann ist es am ehesten, weil ich Musik denke oder höre und das immer mal wieder für mich im Kopf weiterentwickle, mir aber im Moment nicht die Zeit nehme – und auch nicht gebe – um da wirklich dranzubleiben, um das zu schreiben, aber das ist auch schön, ich kann das jetzt immer noch vorwärtstreiben, ich kanns mir vorstellen und ich könnte immer noch das Papier nehmen um das aufzuschreiben, das ist einfach gut, wenn man das noch kann. 

Aber es ist jetzt nicht so, dass ich da irgendwie ungeduldig frustriert wäre, im Sinne von: „Jetzt habe ich meine Arbeit längst erledigt, dass ich endlich wieder schreiben kann“. 

Ich könnte jederzeit wieder anfangen. 

Ab und an mach ich ja was und ich dirigier auch ab und an mal wieder was, spielen ist halt wirklich vorbei, das müsste ich zwei Jahre lang trainieren, damit wieder was ginge….

KA: Die allgemeine körperliche Fitness, die natürlich wahnsinnig schwer zu erhalten ist, wenn man nicht ständig dranbleibt….

BF: Und das ist natürlich der Vorteil, Dirigieren ist ja nicht so kompliziert, also, natürlich kann man das auch besser und schlechter machen, aber es ist grundsätzlich, von der Technik her, nicht so kompliziert. 

Ich mache dann ganz spezielle Sachen, irgendwelche Uraufführungen, bei Sachen, die sehr kompliziert sind, wo andere Leute wahnsinnig Mühe haben, das zu lernen, das ist dann irgendwie auch gut, weil ich die Sachen anwenden kann, die ich gelernt habe. 

Es fällt einem halt einfacher, wenn man Dinge auch selber schreibt, man relativ schnell adaptieren kann, Stile, Schreibweisen, aber auch selber mal Material angefasst hat, kann man sich das schneller draufschaffen.

Ein Paradebeispiel ist, wenn wir jetzt bei Michael Francis bleiben, der ist ja etwas jünger als ich und der ist jetzt auch kein alter Dirigent in dem Sinne, wo Du schon merkst, diese Zeit, die ich die letzten Jahre damit verbracht habe, mir Gedanken zu machen, wie muss Gesellschaft funktionieren, wie funktioniert Musik in der Gesellschaft und wie können wir Institutionen dahin bringen, dass sie was miteinander zu tun haben, hat er vor dem Orchester gestanden, und das sind Welten. 

Und diese Unterschiede werden immer größer, das ist ja auch faszinierend zu sehen, wie so ein Weg geht und da schätze ich mich schon sehr realistisch ein, dass es mir da nicht brennt unter den Nägeln, auch wenn ich manchmal denke: „Och komm, das ist jetzt eigentlich nicht so schwer“, aber das führt nicht dazu, dass ich denke: Würde ich da jetzt stehen, würde es funktionieren.

KA: Eine verrückte Idee: Warum dirigiert BF nicht einmal im Jahr ein musica viva-Konzert, mit irgendwelchen ganz krassen Werken….

BF: Schauen wir mal…

KA: ….vielleicht auch mit einem originalen Fehlmann, und das ganze unter der Überschrift: Chefsache

BF: (sehr amüsiert) Chefsache…die Träume eines Intendanten! Schaun wir mal!

KA: Was geht in Ihnen vor, wenn alles getan ist, wenn das Licht ausgeht, wenn die Zuschauer still werden und das Konzert beginnt? 

Könne Sie ein Konzert noch wirklich geniessen oder geht ihnen vielleicht permanent durch den Kopf, was alles noch passieren könnte?

BF: Also, es gibt sicher auch diese Momente wo ich weiß, wenn jetzt das noch kommt, dann wird es echt eng, das gibt es sicherlich auch mal. Aber ich würde sagen, in 90 Prozent der Fälle setze ich mich da rein und kann – das finde ich das schöne – mich komplett auf die Musik konzentrieren und kann mich komplett darauf einlassen, auf das Werk, auf das Erlebnis. 

Ich höre ja viele Konzerte mehrfach und das hilft warscheinlich auch, dass man das gut kann. 

Es gibt ja schon auch die Möglichkeit, jeden Abend noch ein bisschen besser zu werden. Manchmal lese ich auch unter dem Tag und denke mir so: Das ist mir gestern entgangen, das ist so wichtig, wieso höre ich das nicht, warum erinnere ich mich nicht daran. Und dann nochmal zu hören und zu prüfen, dieses wirklich voll einlassen auf die Musik und in dieser Musik sich bewegen, das ist schön, das ist toll! 

Repetition hilft halt auch, so trainiere ich auch Wahrnehmung, jedes Mal. 

Es ist ja tatsächlich nicht einfach, so eine Aufmerksamkeitsspanne wirklich zu haben, wirklich drin zu bleiben und zu hören.

Natürlich gibts auch Momente wo ich denke: Oh, das muss ich noch machen, das darf ich jetzt nicht vergessen, aber ich würde sagen, zum Großteil bin ich in der Musik und das ist schön!

KA: Ich gestehe, ich bin etwas neidisch auf diese Konzentrationsfähigkeit…

BF: Es ist schon verrückt, wie stark man springt. Ich merke das auch immer wieder. Ich merk das auch beim lesen und…es ist wirklich verrückt, wie selten es das gibt, dass ich wirklich eine Stunde lese und nicht noch: Hier kurz und da noch – und die email beantworte ich auch noch – sondern wirklich: lesen. 

Mehr als eine Stunde schaff ich fast nicht, also nicht nur zeitlich, sondern auch konzentrationsmässig, ist schon verrückt, da war ich auch schon mal besser. Die Konzentration, die Aufmerksamkeitsspanne ist echt ein Thema und das ist natürlich für Musik genau so.

KA: Das Aufwachsen in unserem Luxusghetto, in einer bildungsbürgerlichen Umbgebung, wieweit versperrt es möglicherweise den Blick auf die Umwelt, wie schärfen Sie den Blick für all das, was sich auf den Straßen um SIe herum tut? Lassen Sie das an sich heran, oder betrachten Sie das einfach?

Oder ist das durch die Konzentration auf die berufliche Tätigkeit soweit ausgeklammert, dass das eigentlich keine Rolle spielt?

BF: Doch, es spielt schon eine Rolle, aber ich weiß nicht so genau, wo die Grenze ist zwischen einer relativ objektiven Betrachtung, der Beobachtung und dem Schritt weiter. Wo diese Grenze genau ist, das fällt mir schwer…ich glaube, dass ich relativ gut von dem einen in das andere wechseln kann, sehr gut die Grenze ziehen kann, weiß: OK, Das hat jetzt die und die Konsequenzen, die Wand ist jetzt zu dick zum dagegen anrennen – ich suche nach dem Weg durch die Hecke und finde den Ausweg. 

Man weiß natürlich nie, etwas objektiv zur Kenntnis nehmen und weglegen ist natürlich auch eine Form der Bequemlichkeit, das ist klar und es ist glaube ich niemand davor gefeit. 

Aber ich glaube, ich verzettle mich nicht sehr oft und kann in solchen Situationen sehr genau einschätzen wie meine Ressourcen sind und kann glaube ich auch sehr genau sagen, OK, ich bin für das da, das ist meine Aufgabe, das muss ich zuerst lösen und dann kann ich switchen, dann kann ich wechseln und das sehr schnell und sehr klar. 

Ich glaube, ich kann dann wirklich auch Dinge in dem Moment ausklammern, das ist dann nicht weg aber in dem Moment kann ichs komplett verdrängen, das führt natürlich auch dazu, dass ich ehrlicherweise auf die Fragestellung nicht so genau antworten kann.

Es wäre ein bisschen unvorsichtig zu sagen, dass man genau weiss, wo lass ich das an mich rankommen oder mach ich das nur objektiv? 

Es ist eine Mischung – aber ich bin sehr pragmatisch.

KA: Das Wort „zielorientiert“ passt ja auch genau so auch auf Michael Francis‘  Probenarbeit sehr schön: Es ist nie persönlich, er nimmt einen nie persönlich auf den Kieker, sodern er erwartet, dass man mit ihm den Weg geht, so gut, wie nur irgend möglich….

Was machen Sie in den stillen Stunden, in denen Sie ganz bei sich sind? Kein schreiendes Kind, keine dienstlichen Verpflichtungen – träumen Sie von einer besseren Welt? 

Oder machen Sie sich einfach nur Gedanken über ein Stück, dass Sie komponieren könnten…..

BF:  Ich würde nicht sagen, dass ich von einer bessseren Welt träume, aber ich mache mir Gedanken, ganz explizit, zu meiner Stellung in der Welt, das meine ich nicht im Sinne von gesellschaftlicher Stellung, sondern im Sinne von was das denn bedeutet, dieses grundlegende kommt dann: Ich und Welt und Welt und ich und meine Wahrnehmung und: Wie funktioniert das überhaupt? 

Wie funktioniert Menschsein? Das ist eine spannende Sache, ich mache das gerne, aber nicht so oft….

KA: Was würde BF als Person gerne noch besser können, was würde er gern noch lernen? Eine Fähigkeit, eine Kompetenz….

BF: (langes Nachdenken) Das ist nicht einfach…nicht weil mir nichts einfällt (lacht), es ist mehr die Reihenfolge…ich glaube, was ich wirklich gerne gut können würde, ist so auf der psychologischen Ebene, Beweggründe Verhaltensweisen, Interaktionsmechanismen besser verstehen zu können. Durchschauen ist das falsche Wort, es geht nicht um das, Verstehen trifft es auch nicht ganz, aber: Einordnen, nachvollziehen, sich dem annähern, ich kann es gerade nicht gut formulieren, aber es wäre schon toll, wenn man das gut könnte…

KA: In einer perfekten Welt…..

BF: ….(denkt lange nach)…eigentlich glaube ich, es ist der Respekt, der wirklich gelebt wird und in jedem Moment seinen Platz hat. Der Respekt untereinander und der Respekt für das, was uns umgibt, vom Mensch über die Natur…dann ist der Friede auch die logische Konsequenz. 

Deshalb glaube ich, ist das ein Schlüsselbegriff.

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Musiker in Zeiten von Corona

Ich bin Musiker.

Ich bin Pianist und ich bin arbeitslos, weil das Coronavirus verhindert, dass ich Konzerte geben kann.

Ich kann keine Konzerte geben, nicht hier in Deutschland und nirgendwo anders, weil die Grenzen geschlossen sind, weil die Behörden Veranstaltungen verboten haben, weil Konzertsäle, Opernhäuser, Theater, Musikschulen und -Hochschulen hermetisch geschlossen sind.

An all dem aber ist nichts falsches, denn: Ich bin gesund. 

Aber: Bin ich gesund? 

Ich könnte Corona in mir tragen, ohne es zu wissen, da ja viele die Infektion ganz ohne Symptome durchmachen. 

Ich könnte in die weiterhin geöffneten Cafés und Restaurants gehen, mich unter die Leute mischen, jetzt, da ich nicht weiss, wann ich meiner Arbeit wieder werde nachgehen können, da ich es mir mal erlauben könnte, etwas weniger diszipliniert zu leben. 

Aber ich tue es nicht. 

Weil ich immer versucht habe, ein verantwortungsvoller Mensch zu sein (einmal, ein einziges Mal, habe ich mich aus falsch verstandenem Pflichtbewusstein nicht daran gehalten. Meine Kollegen haben den Moment bis heute nicht vergessen, in dem ich zu Anfang einer CD-Aufnahme bewusstlos vom Klavierstuhl gefallen bin – als ich wieder wach wurde, hatte einer meine Füsse in der Hand und ein anderer versuchte, mich wiederzubeleben!). 

Auch, weil meine Gesundheit immer ein kompliziertes Thema in meinem Leben war. Also bleibe ich zu Hause, versuche, sowenig Menschen wie möglich zu treffen und so wenig Risiken wie möglich einzugehen. 

Ja, es ist hart, sehr hart! 

Auch, weil ein freischaffender Musiker wie ich nicht wissen kann, wann er wieder Geld verdienen wird, denn die Kosten – Miete, Essen, Lebenshaltung, bei vielen auch: Kredite, laufen natürlich immer weiter.

Und ich bin ja nicht allein: Meine grossartige Frau (die, nebenbei gesagt, die viel bessere Musikerin von uns beiden ist, viel disziplinierter und strukturierter, als ich es je sein werde), die eine sehr aktive, aber eben auch freischaffende Harfenistin ist, ist in gleicher Weise beruflich stillgelegt wie ich es bin.

Aber es muss eben sein.

Es muss sein, weil wir alle eine Verantwortung tragen, für unsere Partner, unsere Familien, unsere Freunde und, nicht zuletzt, für das grosse Ganze, für die Menschen, die uns umgeben, die Alten und Schwachen, die durch Corona besonders gefährdet sind.

Und wir tragen auch die Verantwortung dafür, daraus zu lernen!

Wir tragen zukünftig die Verantwortung, unsere politisch Verantwortlichen daran zu erinnern, was damals war, im Frühjahr 2020, als sich herausstellte, dass ein Gesundheitssystem durch private Shareholder und deren Renditeerwartungen eben nicht gestärkt wird, dass es keinen Sinn macht, ein Pflegesystem personell auf Kante zu besetzen, weil Gesundheitsvorsorge und Pflege im Notfall nämlich die erste Verteidigungslinie gegen das Chaos sind!

Wir tragen – ist das wirklich nur meine Meinung? – die Verantwortung dafür, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, endlich mit den ewig gleichen Lippenbekenntnissen aufzuhören und eine Gesellschaft zu schaffen, in der jeder in Anstand und Würde leben kann und auf niemandes Gnade angewiesen ist!

Nein, ich bin kein „linker“.

Ich bin übrigens auch kein „rechter“

Noch bin ich „konservativ“ und schon gar nicht rassistisch oder ausgrenzend. Jeder Mensch – welcher Orientierung, Hautfarbe, Herkunft er auch sein mag, ist mir recht solange er mit mir in gleicher Weise respektvoll umgeht, Auseinandersetzungen über unterschiedliche Meinungen natürlich immer gerne inbegriffen!

Aber ich sehe immer mehr Flaschensammler und Obdachlose (dies ist auch statistisch bestätigt), und das ist für mich als Mensch inakzeptabel.

Machen wir also alle das beste aus dem, was uns da gerade so durchschüttelt! 

Lasst uns nach unseren kreativen Kräften suchen und in den heimischen vier Wänden nach neuen Wegen des Umgangs miteinander suchen. 

Achtet auf euch und geht achtsam miteinander um – wir sollten alle die Krise nutzen, um vielleicht auch verschüttete Kommunikationswege und vergessene Freundschaften wiederzubeleben, das verdammte Handy kann tatsächlich neben Spielen und Navigation auch noch zum Telefonieren dienen! 

Ach ja: Bei all dem geht es nicht um mich als Person. 

Ich habe in meinem Leben mehr Schmerzen, mehr Trauer und, auch das, mehr Verzweiflung erlebt, als ich es meinem schlimmsten Feind wünschen würde. 

Ich bin nicht wichtig. Aber wir alle zusammen sind es!

Ich umarme euch alle aus der Ferne!

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„…steht doch alles schon drin!“

„…steht doch alles schon drin!“

Zum Tod von Siegfried Köhler

Er war eine dieser Persönlichkeiten, die zum Kulturleben in Deutschland dazugehörten wie die Noten zur Musik: Das Ehrenmitglied des VDH Siegfried Köhler.

Geboren am 30.Juli 1923 in Freiburg im Breisgau, gehörte er noch jener Dirigentengeneration an, die ihr Handwerk von der Pike auf lernte, wenn auch mit einem ganz besonderen instrumentalen Akzent denn anders als die meisten Dirigenten kam er nicht etwa vom Klavier sondern studierte an der Musikhochschule Freiburg – Harfe!

An der dortigen Oper war er denn auch bald regelmässig als Aushilfe im Orchestergraben zu erleben, bevor er 1941 als Harfenist und Solorepetitor ans Theater Heilbronn ging.

Doch auch an ihm ging der Krieg nicht vorüber, und so tauschte er den Frack 1942 für drei Jahre gegen die Soldatenuniform ein.

Aus dem Krieg zurückgekehrt entschied sich Siegfried Köhler für die Dirigentenlaufbahn, wurde 1946 Kapellmeister und 1952 erster Kapellmeister in Freiburg.

1954 verliess er seine Heimat, um als Kapellmeister zunächst nach Düsseldorf, 1957 dann nach Köln zu wechseln.

Ab 1962 war er dort als stellvertretender GMD bereits im Interim Leiter des Hauses, bevor er 1964 als GMD an das Staatstheater Saarbrücken ging, wo er auch als Professor Leiter der Dirigierklasse an der Hochschule des Saarlands wurde.

1974 wurde Siegfried Köhler dann Generalmusikdirektor des Hessischen Staatstheaters Wiebaden, dessen musikalischer Leiter er für 14 Jahre werden sollte: Die Verbindung Wiesbaden – Köhler wurde nicht nur in Insiderkreisen zu einem Synonym und bis heute hört man noch in Musikergesprächen Sätze wie „Wer ist eigentlich grad dort Chef?“ – „Jetzt? Na, früher war Siggi Köhler da…..“!

1992 dann, in einem Alter in dem moderne Dirigenten oft schon kürzer treten und sich eigentlich gar nicht mehr fest binden wurde Siegfried Köhler Königlicher Hofkapellmeister an der Oper in Stockholm. Für dreizehn Jahre wurde er dort zu einem Garant für grosse Opernabende bevor er, nun doch etwas kürzer tretend, bis in hohe Alter als reisender Gastdirigent tätig war.

Legende wurden seine Einspringer, in denen er seine ganze Routine und sein Können mit Spontaneität verband, etwa in Nizza, wo er 20 Minuten vor Beginn einer „Walküre“ eintraf und Orchester und Ensemble zu einem unvergessenen Abend mitriss.

Ich hatte das grosse Glück, Siegfried Köhler etwa ab dem Jahr 1990, selbst in der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz als Pianist sitzend, erleben zu dürfen. Hier war eine Mischung aus Musikantentum und völlig souveränem Dirigieren zu erleben die, wie ich mit den Jahren lernte, keineswegs selbverständlich war und ist. 

Ohne jegliche Allüren seinerseits – den „Professor“ verbat er sich fast, nannte ihn überhaupt ausserhalb der Probe jemand (in allem Respekt, wohlgemerkt!) anders als „Siggi“? –  ging es nur um das Werk und seine bestmögliche Umsetzung.

Manchmal war durchaus seine Ungeduld zu spüren, wenn er ein Werk dass er aus vollem Herzen dirigierte dem Orchester erst geduldig erklären musste. Wurde es dann in der Probe unruhig hob er dann doch seine Stimme und nie werde ich das Gesicht eines im Dienst schon ergrauten Stimmführers vergessen, der plötzlich ein „Kinder! KINDER! Jetzt seid mal nicht so ALBERN!“ zu hören bekam!

Ihm fiel es natürlich leichter als uns, sein berühmtes „steht doch schon alles in den Noten….!“ Und sein ebenso klassisches „leicht, Kinder, alles ganz leicht…“ sind bis heute lebende Erinnerungen an ihn.

Doch wenn dann das Konzert anstand, konnte man erleben was hingebungsvolles Musikmachen bedeutet: Mit leuchtenden Augen stand dann ein Dirigent vor dem Orchester der mit so hingebungsvollem Schwung Wagner, Brahms oder auch seine eigenen Werke („ich hab da was geschrieben…“) zelebrierte, dass man sich nach dem Konzert sofort fragte, wann „Siggi“ denn nun wiederkäme.

Wirklich unvergesslich eine konzertante „Elektra“ die der 80-jährige, nach einer etwas mühsamen Probenphase im Konzert, das Orchester und das Publikum einfach mitreissend buchstäblich bis zur Weissglut steigerte.

Als Komponist neigte Siegfried Köhler eher der leichten Muse zu, komponierte einige Musicals und Orchesterwerke (…kann es denn wirklich einen schöneren Musical-Titel geben als „Sabine, sei sittsam“?), leider nur wenige Werke für Harfe – die „Humoreske“ ist über den VDH zu beziehen.

Sehr lesenswert ist seine, zur Zeit leider offenbar vergriffene Autobiographie „Alles Kapriolen“, in der er auf seine ganz persönliche, niemals prätentiöse Art aus seinem Leben berichtet.

Siegfried Köhler verstarb 94-jährig in Wiesbaden, ein Jahr nach seiner Frau. Er wird der Musik und den Musikern sehr fehlen.

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Warum Schubert?

Warum Schubert?

(Ausschnitte aus einem Gespräch mit dem amerikanischen Musikjournalisten David Richards im Januar 2018)

DR: Kai Adomeit, warum Schubert? Warum alles? Und warum auch noch alles 4-händige?

KA: Das ist eine merkwürdige Frage, warum denn nicht? Könnte es etwas wichtigeres geben als Schubert?

DR: Nun, die Zeit der zyklischen Aufführungen scheint doch vergangen zu sein, wenn man mal Andras Schiff und seine Beethoven-Sonaten beiseite lässt.

KA: Ach, wissen Sie, ich habe mich immer schon nicht sehr dafür interessiert, was „man“ macht. Ich spiele Musik ja nicht um des eigenen Vergnügens willen (wenngleich das natürlich auch eine – kleine! – Rolle spielt), sondern weil ich den inneren Drang spüre, mich mit bestimmten Werken und Komponisten auseinanderzusetzen.

Schubert war eine logische Fortführung von Haydn und Beethoven…

DR: …die sie auch vollständig aufgeführt haben, aber fehlt in der Reihe nicht Mozart?

KA: Nun, aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben! Mozart wird bestimmt noch kommen! Aber es ist tatsächlich so, dass der Haydn-Zyklus damals, 2010, aus einer tiefen inneren Krise heraus entstanden ist, in einer Zeit, in der ich alles, was ich bis dahin gemacht hatte in Frage stellte und in der mir sehr unerwartet der Beethoven-Zyklus angetragen wurde. 

Ich habe mich damals sehr lange mit dem Gedanken beschäftigt und festgestellt, dass das was ich wirklich machen wollte….Haydn war!

DR: Das erstaunt mich etwas, aus den USA habe ich Sie eher als Pianisten für die romantische Virtuosenmusik in Erinnerung: Liszt, Rachmaninov, Chopin, Godowsky…

KA: Völlig richtig! Nun ist es zum einen so, dass es den Veranstaltern wichtig ist, dem Publikum ein „attraktives“ Programm zu bieten – und dazu gehören eben auch Werke wie die Tannhäuser-Ouverture in der Liszt-Bearbeitung.

Zum anderen war ich damals viel jünger – damals konnte ich mir ein reines Haydn-Programm nicht einmal vorstellen!

Wenn man jung ist, will man wohl immer etwas beweisen auf dem Instrument.

DR: Wie kann man sich, um den Titel aufzugreifen, den pianistischen Unterschied, etwa zwischen der Tannhäuser-Ouverture und einer Haydn- oder Schubert-Sonate vorstellen?

KA: Weniger Noten – aber keineswegs leichter! Bei Liszt kann ihnen auch einmal ein Lauf verrutschen ohne dass das groß auffällt. Bei einer Haydn-Sonate hört jeder, wenn ein Dreiklang verrutscht!

DR: Und dann das grösste Extrem, Schubert?

KA: Zu Schubert bin ich im Grunde gekommen, wie die Jungfrau zum Kind: Natürlich hatte Schubert schon sehr lange eine wichtige Rolle für mich gespielt. 

Wie Sie ja wissen, habe ich bei einem großen Schubert-Exegeten, Paul Dan, studiert. Doch habe ich selbst bis zu meinem 45.Geburtstag nur die kleine A-Dur Sonate (D 664) öffentlich aufgeführt….

DR: ….Sie haben nicht wenigstens eine der späten Sonaten studiert? 

KA: Gehört, natürlich, gelesen, sehr oft! Aber mein Lehrer hatte mich bei seinem letzten Klavierabend (bevor er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr auftreten konnte) mit der großen B-Dur Sonate (D 960) so erschüttert, mich mit einer wirklich vollkommenen Interpretation derart buchstäblich aus der Bahn geworfen, dass ich mich zwar immer wieder intensiv mit Schubert beschäftigt habe, aber nie den Mut hatte damit auf die Bühne zu gehen – ich fühlte mich dem einfach nicht gewachsen.

DR: Nicht einmal die so populären, eher einfachen Impromptus oder Moments musicaux? Ich habe doch einmal das Moment musical in f-moll von Ihnen….

KA: ….als Zugabe gehört, richtig! Aber das waren Ausnahmen. Gerade die vermeintlich so einfachen Impromptus sind ja Werke voll innerer Dramen, die sich trotzdem innerhalb eines strengen formalen Rahmens bewegen. Natürlich ist es einfach, den reinen Notentext zu spielen, aber das was hinter den Noten stattfindet braucht eben Zeit.

DR: Die jetzt gekommen ist?

KA: Ja! Zumal ich ja nicht in einem Moment damit beginne, in dem Schuberts Klavierwerk an jeder Ecke zu hören wäre. Die zentralen Werke werden natürlich und Gott sei Dank immer wieder im Konzert aufgeführt. Aber wann hört man schon die frühen Sonate, die Fragmente, die Fantasien ausser der Wanderer-Fantasie….

DR: …es gibt noch mehr?

KA: Aber sicher, die sogenannte „Grazer Fantasie“ D 605a und ein ganz frühes Werk, D2E, Schuberts erstes zweihändiges Klavierwerk überhaupt!

DR: Ist ihr „ganzer Schubert“ denn wirklich der ganze Schubert?

KA: Ich gestehe: Nein! Schubert hat eine Unmenge an Tänzen hinterlassen, Walzer, Ländler und sonstige Modetänze der damaligen Zeit. Das meiste davon ist wirklich schöne Musik, im ganzen gespielt aber doch sehr ermüdend und wohl auch nie für den Konzertsaal sondern eher für die Tanzfläche gedacht

DR: Nicht einmal als Aufnahme?

KA: Ich bewundere Michael Endres und Michel Dalberto grenzenlos dafür, dass sie sich in diese Musik so hineinversetzt haben, aber es genügt mir, zumindest vorerst, diese Stücke für mich allein zu genießen.

DR: Also spielen Sie sie schon?

KA: Ich spiele jede gute Musik! Warten wir doch einfach ab, vielleicht wache ich irgendwann auf und spüre, dass ich alle Schubert-Tänze spielen muss! Ich sage niemals nie…

DR: …….ausser zu Busoni?..

KA: …weil ich manche Werke nicht greifen kann, ja. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

DR: Aber sonst alle Originalwerke?

KA: Ja. Wobei „Original“ ein schönes Stichwort ist. Natürlich liebe ich die Lisztschen Liedbearbeitungen der Schubert-Lieder, aber meine grösste Schwäche gilt einer völlig vergessenen Bearbeitung, nämlich der 5.Symphonie in B-Dur in der Klavierfassung von Jan Brandts-Buys.

DR: Zu 4 Händen?

KA: Nein, nein, für 2 Hände! Natürlich bekommt man den luziden Klang des Schubertschen Orchesters so nicht hin, aber es macht einfach Spass, dass zu spielen! Doch zum Original zurück: Alles außer den Tänzen, also die Fantasien, die Variationen, die Impromptus, die Moments musicaux und die Sonaten….

DR: …..wie führen Sie eigentlich die Sonaten auf? Welche Vervollständigungen der Fragmente spielen Sie?

KA: Das war für mich lange eine spannende Frage. Inzwischen bin ich an einem Punkt, an dem ich sage: Ich spiele nur das, was zweifelsfrei von Schubert selbst stammt. Wenn zum Beispiel nur analog zu vorhergehenden Stellen Begleitfiguren zu einer von Schubert selbst niedergeschriebenen Melodie zu vervollständigen sind wie zB im letzten Satz der Sonate f-moll (D 625), wenn also der Herausgeber nur reine Schreibarbeit nachgetragen hat spiele ich das natürlich. 

Ich bewundere auch zB sehr die Vervollständigung der „Reliquie“-Sonate (D 840) durch Ernst Krenek, habe aber immer wieder das Gefühl, dass Schubert hier genau wusste, warum er die Sonate letzlich aufgab. 

Etwas anders liegt der Fall im ersten Satz der schon erwähnten f-moll Sonate. Hier höre ich an der Stelle auf, an der Schubert aufhörte zu komponieren. Die Ergänzung des Satzes durch Paul Badura-Skoda ist zwar faszinierend, aber mir persönlich fehlt hier einfach etwas. Hat Schubert nicht vielleicht doch eine eine weiter gefasste Durchführung, wie er sie etwa in der letzten Sonate (D 960)  komponierte im Sinn gehabt, um sehr viel später in eine echte Reprise in der Ausgangstonart zurückzukehren? 

Das ist aber eine rein subjektive Entscheidung, ich masse mir nicht an im Besitz einer Antwort auf eine Frage zu sein, die nur Schubert selbst hätte beantworten können.

DR: Diese Probleme spielen bei den 4-händigen Werken aber eher eine untergeordnete Rolle?

KA: Gar keine. Die Werke zu 4 Händen sind musikwissenschaftlich unproblematisch.

Ist bei den Klaviersonaten in einigen Fällen nicht einmal völlig klar, welche Sätze zusammengehören, sind die wenigen Textprobleme der 4-händigen Werke einfach zu lösen. Der Anmerkungsapparat der modernen Urtextausgaben ist da natürlich auch sehr hilfreich.

DR: Ich würde gerne noch einmal auf meine Frage zurück kommen: Warum? Die 2-händigen Werke sind doch schon recht umfangreich…

KA: Tatsächlich sind die 4-händigen Werke noch umfangreicher, wenn man die reine Spielzeit betrachtet. Statt acht, wie bei den Solowerken, werden es nach dem derzeitigen Stand der Planung wohl neun 4-händige Abende werden.

DR: Ja, aber…

KA: Ich weiss schon: Warum denn alles? Zum wiederholten Mal: Warum nicht? 

Wissen Sie, Sie sind ja nicht der erste, der diese Frage stellt. Ich halte es aber für wichtig, dass es die Chance gibt, auch die weniger gespielten Werke eines Komponisten im Konzert zu hören! Werke wie die f-moll Fantasie, den berühmten Militärmarsch in D-Dur oder „Lebensstürme“ werden Sie mit Sicherheit auch in anderen Konzerten hören. Aber der Rest? 

Ich weiss nicht, wann ich das letzte Mal das “Grand Divertissement hongrois“ (D 813)  auf einem Konzertprogramm gesehen habe, aber es ist definitiv schon eine Weile her – und ich will ja auch nicht jedesmal 300 km fahren! Sicher, Sie können sich jedes Werk über Apple Music oder Spotify anhören, aber „live“ ist doch etwas ganz anderes!

DR: Ihre Partnerin in den 4-händigen Werken ist eine Studienkollegin….

KA: Fast! Asli Kilic hat beim selben Lehrer studiert – aber einige Jahre später! 

Es war eine schöne Überraschung, dass sie sich auf ein solches Monsterprojekt eingelassen hat, schliesslich ist sie eine vielbeschäftigte Pädagogin und Pianistin und all diese Stücke wollen ja nicht nur geübt, sondern auch zusammen geprobt werden! 

DR: Haben Sie schon länger als Duo gespielt?

KA: Nein, wir hatten uns im Gegenteil für einige Jahre etwas aus den Augen verloren bevor ich sie in einem Konzert fragte, ob sie nicht Lust auf die 4-händige Beethoven-Sonate (Op.6) hätte, mit der ich meinen Beethoven-Zyklus vervollständigen konnte.

DR: Spielen Sie denn mit einer festen Stimmverteilung?

KA: Nein, ich wollte mich von Anfang an in primo und secondo abwechseln. Bisher bekommen wir das auch ohne Probleme hin, es ist uns, glaube ich, eher unwichtig wer oben und unten spielt.

Die Musik gibt das auch gar nicht her. Es gibt wohl keine uneitlere Musik als die von Franz Schubert!

DR: Sie werden also Schubert mit ihr weiterführen?

KA: Ich hoffe es doch sehr!

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Mein Lehrer Paul Dan

Heute achtunddreißig Jahr – Mein Lehrer Paul Dan

Laudatio zur Verabschiedung von Prof.Paul Dan an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst Mannheim am 15.10.2018

Als mir mein Lehrer und Freund Paul Dan den Auftrag zu dieser Laudatio antrug, war mir dies große Freude – und als ich so meine Gedanken zu sortieren begann, wurde mir klar, wie lange all das schon zurückreicht, wie unglaublich lange er mich stets in meinen Gedanken begleitet.

Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich im folgenden sehr subjektiv werde – ich bin so, ich kann nicht anders!

Und das Lügen habe ich leider – oder Gott sei Dank? – nie gelernt….

Zunächst einige biographische Daten:

Paul Dan, Jahrgang 1944 war Schüler von Joseph Willer, Ella Philip, Georg Halmos und Florica Musicescu, der Lehrerin von Dinu Lipatti und Radu Lupu und studierte in Klausenburg und Bukarest. 1968 gewann er den Förderpreis des Bach-Wettbewerbs in Leipzig und konnte seine Ausbildung bei Hugo Steurer in München fortsetzen, die er mit Auszeichnung abschloss. Seit 1973 war er Gastprofessor in Tokio, seit 1978 ist er Professor für Klavier und Kammermusik an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Mannheim – also seit nunmehr 40 Jahren.

Als Solist trat er unter anderem mit den Wiener Symphonikern, den New Japan Philharmonics, dem Tokyo Symphony Orchestra und dem Tokyo Metropolitan Orchestra auf. Daneben bildete die Kammermusik einen Schwerpunkt seiner Aktivitäten. 

1996 zog er sich aus gesundheitlichen Gründen aus dem Konzertleben zurück und wirkt seitdem ausschließlich als Lehrer, worauf ich zunächst eingehen möchte

Beginnen möchte ich mit zwei Zitaten einer seiner Schülerinnen, meiner hochgeschätzten Kollegin Friederike Bischoff, die heute an der Hochschule in Tromsö/Norwegen lehrt:

„Man kann diese Stelle stundenlang, tagelang üben und es ist trotzdem Zufall ,ob sie klappt – oder man lässt diese verdoppelte Oktave weg und kann sie sofort sauber spielen – das musst Du jetzt selbst entscheiden!“

und:

„Inspirierend, offen und niemals Grenzen setzend.“

Wissen Sie, es gibt im Grundsatz zwei Sorten von Lehrern: Jene, deren Schüler blind jeden Ratschlag befolgen, geradezu abhängig werden von ihnen um dann nach Abschluss des Studiums oft in ein tiefes Loch zu fallen, weil ihnen plötzlich das stützende Gerüst fehlt. 

Einer dieser Lehrer, eine damals sehr berühmte pädagogische Koryphäe, hat mir übrigens kurz vor dem Studium bescheinigt, ich sei gleichermaßen vollkommen unbegabt als Pianist wie als Musiker – horribile dictu!

Und dann gibt es jene, die ihre Schüler inspirieren, ihren eigenen Weg zu suchen, sich von Anfang an auf eigene Füße zu stellen und nicht nur die eigene Leistung, sondern auch die ihres Lehrers kritisch zu hinterfragen – keineswegs der bequemere Weg und zwar für beide Seiten!

Aber, auf lange Frist gesehen der einzige Weg, der dem Schüler wirklich den Weg nicht nur durch den Beruf, sondern auch durch das Leben weist, bei dem der Lehrer sich nicht durch den Schüler definiert, sondern sich diesen seinen eigenen Weg suchen lässt – auch mit allen in dem Moment nötigen Irrwegen und durch alle Dickichte hindurch!

Selbst wenn der Schüler das Gefühl hat, sich eine neue Inspiration suchen zu müssen, nach neuen Ideen aus einer Sackgasse suchen zu müssen, in die er sich vielleicht auch aus eigener Blindheit – das Brett vor dem eigenen Kopf ist einem ja bekanntlich immer am nächsten – verrannt hat, sollte der Lehrer trotzdem aus einer gewissen Distanz immer zugewandt bleiben, auch der Lehrerwechsel könnte ja ein Irrweg gewesen sein, wir reden hier ja nicht von Ehebruch, auch wenn manche diesen anscheinend als weniger schlimm als einen Lehrerwechsel wahrnehmen….

Eine für ihn sehr bezeichnende Episode ist diese: Als er einmal ein Repertoiresemester nahm, holte er als seinen Vertreter nicht etwa einen Freund oder jemanden, der für ihn von Vorteil sein könnte sondern: Michael Ponti. 

Der amerikanische Pianist, damals immer noch auf der Höhe seiner Berühmtheit, fiel in die Klasse ein wie ein Wirbelwind! Das klangliche Spektrum wurde noch einmal erweitert, bis hin zu dem berühmt gewordenen, mit unnachahmlichem Louis Armstrong-Reibeisen untermalten „Hier, diese Melodie in der Mittelstimme, die müssen Sie ballern, mit dem Daumen, sonst hört man das nicht!“

Ein großes Erlebnis, unverzichtbar und unvergessen!

Es sei nur am Rand angemerkt: Es war eine vollkommen andere Hochschule als heute, es gab etwa halb soviel Studenten – aber neun Klavierprofessoren! Der Umgangston war ein ganz anderer, der Kontakt untereinander auch – es wäre undenkbar gewesen, nicht in den Klassenabend der Studienkollegen zu gehen…tempi passati, leider, denn früher war zwar nicht alles besser – aber vieles war gut!

Ich gestehe es hier offen ein: In meiner ungewöhnlich langen Zeit mit Paul Dan – mit der bereits angeführten Unterbrechung waren es insgesamt dreizehn Jahre! – habe ich nicht alles gleich verstanden, habe viele Anregungen in dem Moment nicht einmal als solche wahrgenommen, habe ihn gewiss auch des öfteren durch mein Unverständnis verletzt.

Zum Teil spielte hier sicherlich meine Jugend eine Rolle: Kierkegaards „Don Juan als philosophisches Paradigma“ und Alice Millers „der gemiedene Schlüssel“ waren Literaturempfehlungen, bei denen er gewiß für einen kurzen Moment vergaß, daß ich erst vierzehn Jahre alt war. Doch mit welchem Genuss, mit welcher Begeisterung habe ich diese Lektüre sehr viel später verstehen können!

Paul Dans Unterricht fand keineswegs immer am Instrument statt: Wie oft habe ich mit ihm im Café um die Ecke gesessen und wie unendlich viel habe ich dabei gelernt, über den Klang am Klavier – ein zentraler Punkt seines Unterrichts, der Dirigent, der mir einmal bescheinigte, bei mir klinge das Instrument immer ein wenig besoffen weiß bis heute nicht, welch großes Kompliment er mir gemacht hat – , über Werke, über Sekundärliteratur, über das Leben mit der Musik und den Beruf des Musikers. Ich  könnte heute mit Sicherheit niemals Vorlesungen über Literaturkunde halten, hätte, um nur ein Beispiel unter sehr(!) vielen zu nennen, wohl nie das Klavierkonzert von Arnold Schönberg gelernt, hätte mich Paul Dan nicht zu immer neuer Neugier angestiftet.

Doch auch von seiner Geduld, seinem Langmut gegenüber einem schwierigen, leicht autistischen Kind aus einer komplizierten Musikerfamilie soll hier berichtet werden. Mit 15 verschwand ich einmal ohne größere Erklärungen seitens meiner Eltern für drei Monate – in der ersten Stunde danach war er unverändert wie eh und je.

In meinem zweiten Studienjahr packte mich plötzlich das Fernweh und ich ging zum Studium nach München, noch dazu bei einem seiner ehemaligen Studienkollegen (wie hieß er noch mal?) – er fand die Idee großartig!

Nach zwei, sehr diplomatisch ausgedrückt, unglücklich verlaufenen Jahren fragte ich ihn vor Angst schlotternd, ob er noch einen Studienplatz für einen verunglückten Rückkehrer frei hätte – er zögerte keinen Moment!

Nur dass ich den Spaß am Klavierspielen, am Musikmachen überhaupt erst wieder finden musste, das war Ausgangspunkt langer, fassungsloser Diskussionen……

Berichtet werden soll hier auch von der unendlichen Geduld, mit der er einem zwölfjährigen (sic!) mit großer methodischer Souveränität pianistische Grundlagen erklärte, wobei er nebenbei noch meine Versuche ertrug, Beethovens „Appassionata“ und das erste Tschaikowsky-Konzert zu spielen – was man mit 12 Jahren halt so im Kopf hat. Triller, Oktaven,Passagen, Anschlagsarten, klangliche Balance waren für Monate mein täglich Brot, dass er mit niemals nachlassender Intensität bearbeitete.

Nebenbei gab es noch ganz praktische Anwendung trockener Materie: Kontrapunkt wäre mir bis heute ein Fremdwort, hätte ich ihn nicht als Zwölfjähriger am Beispiel der c-moll-Fuge aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers erklärt bekommen. 

Formanalyse, einmal erklärt am Beispiel der „Appassionata“, ist mir seitdem beim täglichen Üben in Fleisch und Blut übergegangen – nur in der Formenlehre-Vorlesung verstand ich sie plötzlich nicht mehr, aber das ist eine ganz andere Geschichte….

Das besondere an diesem Unterricht war vor allem dies: War der kurzfristige Erfolg im Unterricht vielleicht nicht immer sofort sichtbar, so groß war er es auf lange Frist gesehen. Bis zum heutigen Tag begleitet mich sein Ethos der Musik gegenüber, gehen mir Sätze aus seinem Unterricht durch den Kopf und helfen mir immer wieder aufs neue, pianistische Probleme zu lösen, Musik zu verstehen, Inspiration in einem ungeliebten Werk, das nichtsdestotrotz gelernt werden muss, zu finden, Werke aus dem langjährigen Standardrepertoire immer neu zu erfinden – und meine letzte Klavierstunde bei ihm liegt immerhin 25 Jahre zurück!

Noch ein Ausspruch, der von vielen seiner Schüler kommt: „Niemand hätte mich besser auf den Beruf vorbereiten können – auch wenn ich das damals nicht gemerkt habe!“

Ich selbst bin nach so vielen Jahren, in denen Paul Dan vom Lehrer zum vertrauten Freund wurde natürlich nicht mehr objektiv ihm gegenüber, darum will ich von zwei eindrücklichen Momenten in meinem Leben erzählen, will andere seine Qualitäten darstellen lassen: 

Ich muß 16 Jahre alt gewesen sein, als ich zum ersten Mal zu den Sommerkursen des großen ungarischen Pianisten György Cziffra fuhr. 

Dem vorausgegangen war ein bemerkenswerter Moment, in dem ich Paul Dan fragte, was ich denn während der endlosen Sommerferien ohne ihn machen solle. Seine Antwort: „Ich will Dich erst mal nicht sehen, geh auf jeden Kurs, den Du kriegen kannst, egal wo, egal bei wem, und wenn Du nur siehst, wie Du es nicht machen willst!“ Weise Worte!

Nun, angekommen in Frankreich hatte ich die aus heutiger Sicht größenwahnsinnige Idee, Liszts „Totentanz“ zu spielen, also im übertragenen Sinne zu versuchen, 100 Meter gegen Usain Bolt zu sprinten. Bereits nach den einleitenden Kadenzen (richtiger: Kadenzversuchen, so, wie ich spielte) wurde ich unterbrochen, bekam den Klavierauszug mit den Worten „Begleite mich mal kurz, ich zeige Dir mal die rhythmische Struktur des Anfangs…“ in die Hand gedrückt und bekam eine Demonstration des wohl virtuosesten Klavierspiel, das ich jemals erlebte. Bis zum heutigen Tag bin ich der festen Überzeugung, daß Rauch und Flammen aus dem Flügel stiegen!

Mit den Worten „geh üben!“ bekam ich meine Noten überreicht.

Am nächsten Morgen – ich hatte die Nacht am Klavier verbracht – nahm ich den nächsten Anlauf und bekam, nein, kein Lob, sondern eine Ermahnung: „Du hast offenbar einen großen Lehrer, hör ihm besser zu und mach es beim nächsten Mal gleich richtig!“ – kein selbstverständlicher Satz aus seinem Mund!

Der andere Moment ereignete sich ungefähr 2005, ich durfte Lorin Maazel auf einer Tournee durch die USA assistieren und korrepetierte eine Klavierprobe mit dem unangenehm komplizierten Cellokonzert von Peter Mennin – aus der Partitur, da der handschriftliche Klavierauszug mehr Verwirrung stiftete als hilfreich war.

Nach einem langen Kampf mit den rhythmischen Tücken des Werks und der ebenfalls schlecht lesbaren Partitur legte sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter und ein ganz ungewohnt sanftes „Du musst einen höllisch guten Lehrer gehabt haben“ brummelte durch den Raum. Es sind solche Momente, in denen man lernt, wie sehr man den eigenen Lehrer zu schätzen hat!

Nachdem ich nun den Lehrer Paul Dan gewürdigt habe, möchte ich auf den Teil seines Lebens zu sprechen kommen, den viele hier leider nie erlebt haben – den Pianisten!

Paul Dan war ein Pianist, der mit Leichtigkeit ein großes und vielseitiges Repertoire pflegte. 

Ich erinnere mich – und niemand, der dabei war, wird diesen Abend je vergessen – an sein Antrittskonzert im Dezember 1980, bei dem er Ravels „Gaspard de la nuit“ und Liszts Sonate h-moll wie aus dem Moment heraus erschuf, besonders aber an die kleine A-Dur-Sonate von Franz Schubert (D 664), die so vermeintlich harmlos den Abend eröffnete, um dann im langsamen Satz in die klangliche Unendlichkeit einzutauchen. 

Ich erinnere mich an eine wilde, berauschend bunte „Napoli“-Suite von Francis Poulenc, Liszts „Csardas macabre“, der wirklich wie die Beschwörung der Hölle klang, an die für mich bis heute auf einsamer Höhe stehende Darstellung der Rachmaninowschen Corelli-Variationen – und ich habe meine Hausaufgaben durchaus gemacht, ich verfüge über fast alle Aufnahmen dieses Werks! – , denen er in überlegener Weise formale Logik verlieh, ohne dabei jemals an musikalischem Schwung oder  musikalischer Freiheit einzubüßen.

Die Cellosonaten von Beethoven, die er mit meinem Vater am Cello mit soviel Temperament wie inniger Versenkung interpretierte.

Nicht zuletzt Joseph Haydn, dem er den „Säulenheiligen“ gründlich austrieb, den er mit großem Witz, Verve und steter Begeisterung spielte.

Das 4.Klavierkonzert von Beethoven, daß er mit bezwingender musikalischer Intensität erfüllte und, natürlich, das aufwühlende Urerlebnis des Konzerts für die linke Hand von Ravel, daß ich nie wieder in dieser überwältigenden Mischung aus klanglicher Gewalt, pianistischem Können und musikalischem Zauber gehört habe.

Nicht nur bekanntes fand sich im Repertoire: Die konzertanten Divertimenti von Hans Vogt – nach ihm ist der Saal im Altbau benannt, er war hier lange Kompositionsprofessor –  seien hier genannt, die Rapsodia sinfonica von Joaquin Turina oder  – damals ein viel obskureres Werk als heute – das Klavierkonzert von Antonin Dvorak. Bis heute bekomme ich beim Gedanken an das Hauptthema aus seinen Händen eine Gänsehaut!

Doch all dies ist Schall und Rauch gegen den Klavierabend, der Paul Dans letzter werden sollte, bei dem er im frisch renovierten Hans Vogt-Saal Schuberts letzte Sonate in B-Dur und Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ spielte.

Zu erklären, in welcher Weise Paul Dan in der Schubert-Sonate an diesem Abend an letzten Dingen rührte, gliche dem Versuch, einen Kometen mit einem Schmetterlingsnetz einzufangen. Nie wieder – auch nicht bei einem Sokolov oder Richter, dem ich noch einige Male umblättern durfte – habe ich solche Klänge aus einem Flügel kommen hören, alleine der Übergang in die Durchführung des ersten Satzes war, als bliebe die Zeit für einen sehr, sehr langen Moment einfach stehen. 

Das Erlebnis dieses Abends hat mich selbst am Klavier sehr lange von Schubert ferngehalten – solche Höhen schienen ohnehin unerreichbar, doch das lange Warten hat sich gelohnt, kann ich doch heute an Schubert mit einer durch lange Jahre gewachsenen Gewißheit heran gehen, auch hier also wieder ein pädagogischer Erfolg auf sehr lange Sicht…..

Ich bin dankbar, daß ich diesen Abend erleben durfte, der mich im innersten berührt hat wie wirklich kein anderes Konzert seitdem, und unendlich dankbar für all die Musik, die ich durch ihn kennen und lieben lernen durfte.

Nach all diesen Jahren, für mich persönlich kann ich frei nach Uwe Johnson sagen: „Heute achtunddreißig Jahr“, möchte ich mich bei Paul Dan jedoch nicht nur bedanken, sondern ich möchte mich mit großem Respekt tief vor ihm verneigen mit einem Werk, mit dem sich ein besonderes Erlebnis verbindet:

Ich kam eines Tags in den Unterricht in der alten Heidelberger Hochschule – herrliche, große, immer angenehm temperierte Räume! – und fand Paul Dan am Klavier. Er übte ein mir völlig fremdes Werk, welches ich keinem Komponisten zuordnen konnte, daß mich jedoch in seiner ganz ungewöhnlichen Andersartigkeit völlig gefangen nahm, mich vor Begeisterung atemlos machte: Enescus 2.Suite Op.10.

Nachdem ich in einer monatelangen Suchaktion an die Noten gekommen war – wir reden von den 80ern, es gab noch kein Internet – schrak ich zunächst vor den enormen Anforderungen des Werks zurück. Erst Jahre später wagte ich mich daran, doch bis zum heutigen Tag kann ich die Klänge nicht vergessen, die Paul Dan mit größter Hingabe aus dem keineswegs hervorragenden Instrument zauberte. 

Hören sie also genau den Satz, den ich damals zum allerersten Mal hörte :

(Georges Enescu, Suite Nr.2 Op.10, 4.Satz Bourrée)

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Bye, Geoffrey!

Geoffrey Tozer: Zum Tod eines grossen Pianisten.

Vor kurzem stiess ich in der Online-Ausgabe des „Australian“ auf einen Artikel von Stuart Rintoul: „The life and death of Geoffrey Tozer“. 

Tief betroffen las ich den traurigen Nachruf auf einen Mann dem das Leben schwer fiel und auf einen Pianisten, der wohl auch vielen seiner 

Kollegen ein Fremder, eine Randerscheinung blieb. Warum?

Zunächst die Biographie:

Geoffrey Tozer wurde 1954 in Indien geboren, kehrte als vierjähriger in die australische Heimat zurück und zeigte bald ein ungewöhnlich starkes musikalisches Talent.

Mit 9 Jahren trat er zum ersten Mal mit einem Orchester auf und führte bereits als zwölfjähriger (!) die 5 Beethoven-Konzerte öffentlich auf.

Nach Erfolgen auf internationalen Wettbewerben stürzte er sich ins weltweite Konzertleben und erlebte 1988 mit der Veröffentlichung der Klavierkonzerte von Nikolai Medtner seinen grossen internationalen Durchbruch.

Etwa zu dieser Zeit stiess auch ich zum ersten Mal den Namen Geoffrey Tozer und kaufte mir die CDs.

Welche Offenbarung! Zum einen natürlich die Entdeckung völlig zu Unrecht vergessener Konzerte der Spätromantik – welche Meisterwerke die 3 Konzerte von Medtner sind war damals beileibe noch nicht Allgemeingut, die Aufnahmen von Nikolai Demidenko, Dmitri Alexeev oder Geoffrey Douglas Madge kamen erst Jahre später und die alte Michael Ponti-Aufnahme des 3.Konzerts war schwer zu beschaffen.

Der Geniestreich des 1.Konzerts etwa, in dem Medtner sämtliche Formprinzipien nicht nur über den Haufen wirft sondern neu erfindet. Das ernste 2.Konzert, in dem Klavier und Orchester eng verzahnt miteinander um das thematische Material kämpfen, oder das glänzende, extrovertierte 3.Konzert.

All dies interpretiert von einem hervorragenden Orchester (Philharmonia), einem kompetenten Dirigenten (Neeme Järvi) und eben von Geoffrey Tozer, der in den folgenden Jahren bei Chandos in dichter Folge Platte um Platte herausbringen sollte, fast immer mit ungewöhlichem, eher am Rande liegenden Repertoire: Die Werke für Klavier und Orchester von Respighi, das 3.Konzert von Tschaikowsky, Konzerte von Rimsky-Korsakov, Roberto Gerhard und Rawsthorne, Klavierwerke von Busoni und Bartok und, natürlich, von Medtner, für Tozer eine Lebensaufgabe.

So nahm er neben 2 CDs mit Liedern, den Klavierkonzerten und den ersten zwei Violinsonaten (mit Lydia Mordkovitch) praktisch das gesamte Soloklavierwerk von Nikolai Medtner auf.

Diese Aufnahmen begleiten mich seit langer Zeit auf meinem iPod und immer wieder entdecke ich neues darin und kann nicht aufhören zu staunen: Über die komplexen Meisterwerke eines Komponisten, der bis heute ein Geheimtip geblieben ist und über seinen Interpreten.

Welch ein Wunder etwa die Aufnahme der beiden Sonaten Op.53: In der ersten (Sonata Romantica), noch eine der häufiger von Pianisten aufs Programm gesetzten, überrascht Tozer mit grosser emotionaler Zurückhaltung und bringt gerade auf diese Weise das Werk zu grosser Wirkung. 

Die zweite Sonate (Sonata minacciosa) zeigt einen verwandelten Pianisten: Tozer spielt, als ginge es um sein Leben. Gegensätze treibt er bis ins Extrem, so sehr er den Flügel in den langen virtuosen Strecken an die Grenzen seiner klanglichen Möglichkeiten treibt, so sehr berühren die lyrischen Passagen an der Grenze des Verstummens.

Dies vor allem war eine Qualität Tozers: Nie wirkt etwas nur gleichgültig heruntergespielt, immer ist eine Aussage in seinem Spiel zu hören, eine verletzliche innere Stimme die insbesondere in den leisen, lyrischen Passage aufs tiefste berührt.

Alles in allem eine Aufnahme die jeder Pianophile gehört haben sollte, nicht nur wegen des Pianisten sondern auch wegen des Repertoires, denn nirgendwo anders kann man Medtner in solcher Vollständigkeit hören.

Geoffrey Tozer starb nach einer langen Zeit des Rückzugs vom Podium im Oktober 2009 in Melbourne, im Alter von nur 55 Jahren .

Uns bleiben Seine Aufnahmen, das Vermächtnis eines ebenso unangepassten wie aussergewöhnlichen Musikers.

An dieser Stelle endete mein ursprünglicher Artikel, denn lange, sehr lange habe ich gezögert, meine persönliche Bekanntschaft, ja, vielleicht sogar Freundschaft mit Geoffrey Tozer zu offenbaren. Doch denke ich, es wirft zehn Jahre nach seinem Tod ein noch helleres Licht auf den großen Musiker, der er war.

Im Winter 2001 klingelte es Abends plötzlich unerwartet an der Tür des sehr abgelegenen Hauses in Schottland, in dem ich mit meiner damaligen, 2006 viel zu früh verstorbenen Lebensgefährtin lebte, wenn ich nicht in Deutschland war.

In der Tür stand ein sehr nasser und sehr durchgefrorener Mensch, den ich im ersten Moment nicht einmal erkannte: Der Pianist Geoffrey Tozer.

Begegnet waren wir uns in der vorangegangenen Woche in einem Notengeschäft in London, in dem wir verblüfft feststellten, beide auf der Suche nach entlegenem Randrepertoire zu sein („You‘re really looking for….Sorabji?“) – Pianisten unter sich. 

Nach einer Tasse Tee gegenüber tauschten wir Adressen aus, wohl beide in dem sicheren Gefühl, damit nur der Form Genüge getan zu haben.

Und nun stand er da, müde und genervt von der Suche nach der Adresse („Wo zum Teufel liegt dieses Haus eigentlich? Im Niemandsland? Ist Schottland schon unabhängig?“), die damit endete, dass ihn ein Ortskundiger mit dem Auto mitnahm, und sehr hungrig.

Hungrig, wie ich später merken sollte, nicht nur nach der Gott sei Dank gut bestückten Küche, sondern hungrig auch nach Musik. Denn so einsam das Haus auch lag, an Instrumenten mangelte es nicht und plötzlich war das Haus von Klängen erfüllt, die ich schon von CDs kannte, aber noch nie live gehört hatte: Klaviermusik von Nikolai Medtner.  Doch welchen müden Nachklang des wahren Geoffrey Tozer hatte ich gehört!

Das erste, dass ich warnahm, war sein Klang: Voll, rund und brillant, doch zugleich immer sensibel und fragil, als sei er sich seiner selbst nicht ganz sicher.

Selbst im explosivsten fortissimo war immer eine zweifelnde Zurückhaltung zu spüren, nie wurde eine Passage nur um der billigen Brillanz willen gespielt, immer war ein suchender Geist zu hören.

Sehr schnell kam in mir die Frage auf: Warum muss dieser grosse Pianist, der das Klavier wie nur ganz wenige zum Klingen bringt, so hart für seine Karriere kämpfen? 

Ganz und gar lassen sich solche Fragen im Musikbusiness nie klären und ich wollte auch im Gespräch nicht zu sehr in ihn drängen, doch ist durchaus ein Muster darin zu erkennen, dass große Musiker oft nicht unbedingt gut darin sind, ihre Karriere konsequent voranzutreiben.

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Der Kaiser von Atlantis, oder: Ein naiver Mensch?

Der Kaiser von Atlantis, oder: Ein naiver Mensch?

Einleitung zur Uraufführung der Dokumentation der szenischen Aufführung in Ludwigshafen

von Kai Adomeit

Zunächst einige Zitate, in chronologischer Reihenfolge:

„Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“

(Bibel, 2. Brief des Paulus an die Thessaloniker)

„Wir, wir Deutschen, waren besser als die anderen, freier im Denken, reiner im Fühlen, ruhiger und gerechter im Handeln. Wir, wir Deutschen, waren das wahrhaft auserwählte Volk“

(Viktor Klemperer, „Curriculum vitae“)

„Wollt ihr den totalen Krieg?“

(Joseph Goebbels, Sportpalastrede, 1943)

“Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Sozialdemokrat.

Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.”

(Martin Niemöller)

„Hätte ich von den Schrecken in den deutschen Konzentrationslagern gewusst, ich hätte Der große Diktator nicht zustande bringen, hätte mich über den mörderischen Wahnsinn der Nazis nicht lustig machen können“

(Charlie Chaplin, Autobiographie)

„Wenigstens zwölf Jahre anständig gelebt“

(Hermann Göring, bei seiner Verhaftung 1945)

„So laut schlägt das Gewissen des Westens nicht, dass darunter die Waffenexporte litten“

(Hanns Dieter Hüsch 1986)

“Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen” […] “Nur wer arbeitet, soll auch essen.” 

(August Bebel 1883, undFranz Müntefering am 9. Mai 2006 in der Bundestagsfraktion der SPD zum geplanten „SGB II-Optimierungsgesetz“)

„Eichmann war von empörender Dummheit“

(Hannah Arendt)

 Meine persönliche Begegnung mit Viktor Ullmann liegt tatsächlich schon 30 Jahre zurück: Während meiner Studienzeit veranstalteten die Musikhochschulen in Baden-Württemberg das Festival „Den Opfern der Gewalt“ das all die Werke ins Gedächtnis zurückrief, die mit ihren Schöpfern den Weg in die Ghettos und Konzentrationslager gingen.

Hans Krasa, Gideon Klein, Pavel Haas, Miloje Milojevic, Albéric Magnard erlebten ihre musikalische Wiedergeburt und fassunglos musste man zur Kenntnis nehmen, welche musikalischen Schätze hier zu heben waren.  

Eine herausragende Rolle spielten aber auch damals schon Erwin Schulhoff, dessen Jazz-Etüden für Klavier kurz vorher beim Festival in Lockenhaus wie eine Bombe eingeschlagen hatten und eben: Viktor Ullmann.

Ein besonderes Problem damals: Es gab keine gedruckten Ausgaben. 

In diesem Sommer nun begegnete ich in Mannheim dem 2015 verstorbenen Dirigenten Israel Yinon, der mir einen Stapel Kopien in die Hand drückte: Viktor Ullmanns sieben Klaviersonaten.

Die ersten vier im Eigenverlag herausgegeben, die letzten drei jedoch Manuskriptkopien aus Theresienstadt auf immer schlechter werdendem Papier, kaum les- und entzifferbar.

Ich gestehe, dass mir die Bedeutung dieser Werke damals entging, auch das Ullmann-Revival der folgenden Jahre, am Leben gehalten durch den damaligen Rektor der Stuttgarter Musikhochschule Konrad Richter, ging weitgehend an mir vorbei.

In den folgenden Jahren gab die Decca noch eine CD-Reihe zum Thema „entartete Musik“ heraus, Opern wie „Der gewaltige Hahnrei“ von Berthold Goldschmidt oder „Das Wunder der Heliane“ erlebten ein kurzes Revival, aber im Grunde genommen ging man wieder zur Tagesordnung über.

Warum?

Nun, zunächst war da immer das Problem der Aufführungsmaterialien: Viele Werke waren rasch vergriffen und wurden nicht mehr neu aufgelegt, die Aufführungsrechte in Deutschland waren teuer, die Besetzungen dem Entstehungsort entsprechend exotisch und die Werke selbst teils sperrig, teils von haarsträubender Schwierigkeit.

Doch zurück zum „Kaiser von Atlantis“.

Zunächst einige Worte über den Komponisten: Viktor Ullmann wurde 1898 im früheren Österreich-Ungarn geboren. Beide Eltern konvertierten schon vor seiner Geburt um katholischen Glauben, sein Vater wurde im ersten Weltkrieg bis zum Oberst befördert und in den Adelsstand erhoben.

Früh wurde er, ein begabter Pianist, Kompositionsschüler von Arnold Schönberg. Mit 21 Jahren verließ er Wien und ging nach Prag, wo er sich unter der Anleitung von Alexander Zemlinsky als Komponist und Kapellmeister am Prager neuen deutschen Theater weiterentwickelte.

Seinen Durchbruch als Komponist erlebte er Ende der 20er Jahre. Lieder und insbesondere die Variationen Op.3 über ein Thema von Arnold Schönberg für Klavier machten seinen Namen schlagartig bekannt.

Nach Zwischenspielen als Kapellmeister in Zürich und Betreiber einer antroposophischen Buchhandlung in Stuttgart, musste er 1933 Deutschland verlassen und kehrte wieder nach Prag zurück, wo er seine erste große  produktive Schaffensphase erlebte.

Zahlreiche erfolgreiche Werke enstanden und wurden aufgeführt, ein eigener Personalstil im Spannungsfeld zwischen den üppigen Fin de siècle-Klängen Zemlinskys und der strengen Schule Schönbergs entwickelte sich.

Im Sommer 1938 hielt sich Ullmann drei Wochen in Dornach auf. Sein Versuch, in der Schweiz Fuß zu fassen, scheiterte allerdings nicht an der mangelnden Hilfsbereitschaft des Goetheanums, sondern an der restriktiven Schweizer Einwanderungspolitik, die ihm Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis verweigerte.

Im März 1939 wird Prag von Hitler besetzt. Ullmann kann noch im Sommer 1938 in London der Aufführung seines 2. Streichquartetts beim IGNM-Fest beiwohnen, er kann ein letztes Mal Dornach besuchen, die damalige Uraufführung von Goethes Faust aufnehmen, sogar ein kurzfristig anberaumtes Konzert bestreiten.

Ohne Erfolg bemüht er sich um Emigration. So gerät er in größte und bedrohliche äußere Schwierigkeiten, doch sein Schaffensdrang ist ungebrochen. Er organisiert (verbotene) Hauskonzerte, ist nach wie vor als Musikpädagoge tätig, gibt eine große Anzahl eigene Kompositionen im Selbstverlag heraus, unter ständiger Gefahr entdeckt zu werden, und es entsteht eine Vielzahl von weiteren Werken.

Seine zu spät begonnene Suche nach Auswanderungsmöglichkeiten bleibt ohne Erfolg.

Am 8. September 1942 wird Ullmann nach Theresienstadt deportiert. Dort wird er „Leiter der Sektion Musik der Freizeitgestaltung“, für die er – zusammen mit Gideon Klein, Pavel Haas und Hans Krása – komponiert und organisiert. Dort gründet er auch ein „Studio für Neue  Musik“.

Viktor Ullmann im Sommer 1944:

„Theresienstadt war und ist für mich Schule der Form. Früher, wo man Wucht und Last des stofflichen Lebens nicht fühlte, weil der Komfort, diese Magie der Zivilisation, sie verdrängte, war es leicht, die schöne Form zu schaffen. Hier, wo man auch im täglichen Leben den Stoff durch die Form zu überwinden hat, wo alles Musische in vollem Gegensatz zur Umwelt steht: Hier ist die wahre Meisterschule. Ich habe in Theresienstadt ziemlich viel neue Musik geschrieben, meist um den Bedürfnissen und Wünschen von Dirigenten, Regisseuren, Pianisten, Sängern und damit den Bedürfnissen der Freizeitgestaltung des Ghettos zu genügen. Sie aufzuzählen scheint mir ebenso müßig wie etwa zu betonen, dass man in Theresienstadt nicht Klavier spielen konnte, solange es keine Instrumente gab. Auch der empfindliche Mangel an Notenpapier dürfte für kommende Geschlechter uninteressant sein. Zu betonen ist nur, dass ich in meiner musikalischen Arbeit durch Theresienstadt gefördert und nicht etwa gehemmt worden bin, dass wir keineswegs bloss klagend an Babylons Flüssen saßen und dass unser Kulturwille unserem Lebenswillen adäquat war; und ich bin überzeugt davon, dass alle, die bestrebt waren, in Leben und Kunst die Form dem widerstrebenden Stoffe abzuringen, mir Recht geben werden.“

Ullmann war überzeugter Antroposoph und glaubte bis zum Schluß an das Gute im Menschen.

Am 16.Oktober 1944 wurde er, wie auch seine Komponistenkollegen Pavel Haas und Hans Krasa („Brundibar“) nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Bis zur Deportation erreichte seine Werkliste die Opuszahl 41 und enthielt u.a. vier Klaviersonaten, zwei Streichquartette, Liederzyklen nach verschiedenen Dichtern, Opern, ein Klavierkonzert und ein Saxophonkonzert. Der größere Teil dieser Werke ist verschollen; die Manuskripte gingen wahrscheinlich während der Besatzungszeit verloren.

Erhalten blieben 15 Drucke seiner zwischen 1936 und 1942 entstandenen Kompositionen, die Ullmann im Selbstverlag herausgegeben und einem Freund zur Aufbewahrung anvertraut hatte. Sie sind heute im Besitz der Karlsuniversität Prag.

Die Werke, die Ullmann im KZ Theresienstadt schuf – die Oper „Der Kaiser von Atlantis“, ein Streichquartett, drei Klaviersonaten, Liederzyklen übergab er in Theresienstadt seinem Freund, dem Literaturwissenschaftler Emil Utitz. 

Dieser konnte sie nach der Befreiung nach London mitnehmen. Von dort kamen sie nach langen Jahren endlich in den Besitz des Goetheanums Dornach. Ab den frühen 1990er Jahren sind sie, nach schwieriger Urheberrechts-Klärung, im Musikverlag Schott Mainz verlegt worden, sind teilweise sogar als Download erhältlich – moderne Zeiten!

Ullmann schuf drei Opern: „Der Sturz des Antichrist“ (1935), „Der zerbrochene Krug“ nach Kleist Op.36 und eben „Der Kaiser von Atlantis, oder die Tod-Verweigerung“.

1975 wurde der „Kaiser“ in Amsterdam uraufgeführt, in einer bearbeiteten Fassung, die sich nach dem Klavierauszug der letzten Probe in Theresienstadt richtete: Zahlreiche Kürzungen, Umstellungen und insbesondere Textänderungen legen den Schluss nahe, dass versucht wurde, die Oper selbst um den Preis der Verstümmelung aufzuführen. Die Schere im Kopf, der Versuch, den Text unverständlich zu machen ist deutlich zu erkennen. Zur Uraufführung kam es trotzdem nicht, das Werk wurde abgesetzt. 

1989 unternahm die Neuköllner Oper den ersten Versuch, die Originalgestalt des Werks wieder herzustellen, bis kurz darauf anhand eines originalen Rollenbuchs aus Theresienstadt eine Fassung erstellt werden konnte, die den Absichten des Komponisten wohl am nächsten kommt und so auch bei Schott verlegt ist.

Ullmann schrieb den „Kaiser von Atlantis“ für die Instrumente, die ihm zur Verfügung standen: Ein Streichquintett, Flöte, Oboe, Klarinette, Trompete, Saxophon, Schlagzeug, Tenor-Banjo/Gitarre, Klavier, Cembalo und Harmonium.

Ausserdem sechs Sänger, von denen einer eine Doppelrolle spielt.

Die Oper, deren Text von Ullmanns jungem Mithäftling Peter Kien stammt – zum Zeitpunkt der geplanten Uraufführung war er erst 24 Jahre alt, auch er wurde 1944 in Auschwitz ermordet –  ist nun etwas ganz besonderes. Seien Sie darauf gefasst, Dinge zu hören und zu sehen, die Sie nie wieder auf einer Opernbühne hören und sehen werden.

Der „Kaiser von Atlantis“ ist reinste, konzentrierte Musik, ohne jeglichen überflüssigen Flitter, ohne Verzierungen und Schnörkel, genau wie das Libretto. 

Peter Kiens Text muss im Kriegsjahr 1943 wie reine Wehrkraftzersetzung gewirkt haben:

König Overall der Einzige(!), „Ruhm des Vaterlandes, Segen der Menschheit, Kaiser beider Indien, Kaiser von Atlantis, regierender Herzog von Ophir und wirklicher Truchseß der Astarte…..“ und ich bin nach lange nicht fertig! erklärt den totalen Krieg aller gegen alle und rühmt seine Vertrautheit mit seinem Aliierten, dem Tod. 

Die Musik dazu wird Ihnen vertraut vorkommen: Es handelt sich um das Deutschlandlied, aber keine erste Strophe, kein „Deutschland über alles…“, keine Sorge!

Die bekannte Melodie wird nach Moll verfremdet und scheint den Text eher zu konterkarieren, als zu unterstützen.

Der Tod, der kurz zuvor auf sein glorreiches Dasein seit Anbeginn der Zeiten zurückgeblickt hat, fühlt sich verhöhnt und herabgesetzt und kündigt seine Zusammenarbeit mit den Menschen auf: Ab sofort kann kein Mensch mehr sterben.

Das mag wie die Erfüllung eines alten Menschheitstraums klingen, beim zweiten Hinsehen aber erweist es sich als die größte nur denkbare Katastrophe: Mitten im Krieg „ringen Tausende mit dem Leben, um endlich sterben zu können.“

Overall ordnet Hinrichtungen an, die vollzogen werden – und vollkommen sinnlos sind, weil die Gehenkten einfach nicht sterben können!

In einem Versuch, wie man heute sagen würde, Fake News zu schaffen, erklärt König Overall, er habe seinen Soldaten das Geheimmittel des ewigen Lebens geschenkt……….aber es ist umsonst, die Soldaten erkennen die Sinnlosigkeit ihres Tuns und beginnen aufeinander zuzugehen…

Das Sujet der Tod-Verweigerung taucht übrigens 50 Jahre später nochmals an ganz unerwarteter Stelle auf, in Terry Pratchetts Fantasy-Roman „Alles Sense“.

Weil Gevatter Tod (genau so, wie man sich die Figur vorstellt, Knochenmähre, Umhang, Sense) sich plötzlich die Sinnfrage stellt, schicken ihn seine Auftraggeber, die Revisoren, in den Ruhestand und er selbst wird sterblich. Er nutzt seine verbliebene Zeit, um endlich zu erfahren, was es bedeutet, Zeit zu haben – und sie gegebenenfalls zu verschwenden. 

Mittlerweile zeitigt die Abwesenheit des Todes unangenehme Nebenwirkungen: Die Lebensenergie alles Verstorbenen staut sich an und beginnt die Welt des Unbelebten zu durchdringen. Hosen laufen ihren Besitzern davon, Sofas machen sich selbständig, Nägel und Schrauben verweigern den Dienst. 

In einem epischen Sensenduell mit dem neuen Schickimicki-Tod, der mit einer polierten Krone, Blitz und Theaterdonner zum High Noon erscheint…..aber ich will Ihnen das Lesevergnügen nicht nehmen!

Auch Peter Kien verzichtet keineswegs auf Humor:

Harlekin: Ich wechsle die Tage nicht mehr täglich, seit ich‘s mit dem Hemd nicht tun kann und nehme nur einen neuen, wenn ich frische Wäsche anziehe

Tod: Dann musst Du ja tief im vorigen Jahr stecken

Oder auch:

Tod: (zu Harlekin) Du bist kaum dreihundert Jahre alt, und ich mache dieses Theater mit, seit die Welt steht………Du hättest mich sehen sollen!

Die Musik……Viktor Ullmann hat eine Parabel an der Grenze zwischen Kurzoper und Nummernrevue geschrieben, verfolgt jedoch einen ganz klar erkennbaren musikalischen Plan: Jede Figur hat ihr eigenes Motiv, welches sie durch das ganze Werk begleitet.

Doch vermeidet Ullmann hier die offensichtlichen Klischees: Overall klingt eher verzweifelt als herrschaftlich und der Tod hat mehr als nur eine kleine Schwäche für Foxtrot und Swing!

Schließlich, in einer grotesken Parodie von Musik und Text:

„Schlaf, Kindlein schlaf: Ich bin ein Epitaph.“

Für mich selbst einer der Höhepunkte, mitten im Stück, die Arie des Bubikopf, deren musikalische Begleitung fast stillzustehen scheint:

Ist‘s wahr, daß es Landschaften gibt,

Die nicht von Granattrichtern öd sind?

Ist‘s wahr, daß es Worte gibt,

Die nicht schroff und spröd sind

Ist‘s wahr, daß es Wiesen gibt,

Die voll Buntheit und Duft sind

Ist es wahr, daß es Berge gibt, die blau von strahlender Luft sind?

Es sei daran erinnert: Geschrieben von einem 24jährigen, der der sicheren Vernichtung ins Auge blickt.

Schließlich, nachdem die Situation sich auf das äußerste zugespitzt hat und die Kommandoketten beginnen, zusammenzubrechen, bietet der Tod an zurückzukehren, stellt jedoch, bevor er versöhnt sein wird,  eine Bedingung:

Overall muss als erster den neuen Tod sterben……

Ich würde gerne noch ein wenig auf die Produktion eingehen, die ich nicht nur während der Orchesterproben, sondern auch durch einige der vorhergehenden szenischen Klavierproben begleiten durfte.

Mir war die Existenz des „Kaisers“ schon lange bekannt, das Werk selbst hatte ich ein einziges Mal zuvor durch die Decca-Aufnahme gehört, aber nicht wirklich wahrgenommen.

In den Proben nun traf mich die Musik in Verbindung mit den Texten wie ein Hammer! Eine Offenbarung in Tönen!

Mag sein, daß ich da sehr dünnhäutig bin, da meine eigene Familie von den Nazis fast völlig vernichtet wurde, aber ich habe auch bei meinen Kollegen wahrgenommen, wie sie während der Proben mehr und mehr in den Bann des Werks gerieten. 

Das ist keineswegs selbstverständlich, auch der Musikerberuf besteht durchaus hin und wieder aus Routine oder, auch dies, mühevoller Auseinandersetzung mit einem ungeliebten Werk. 

Doch ich glaube, ich kann auch für meine Musikerkollegen von der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz sprechen wenn ich sage: Diese Produktion war etwas ganz besonderes, ein berührendes, aufwühlendes Erlebnis, bedingt auch durch den ungewöhnlichen Spielort.

Natürlich auch durch die Zusammenarbeit mit dem großen Theatermann Hansgünther Heyme: Es war ein echtes Erlebnis, das Zusammentreffen von Können, Wissen und Kreativität in seiner geduldigen, konzentrierten Regiearbeit mitzuerleben, Ausgangspunkt ehrlicher Bewunderung und – auch dies! – tiefer persönlicher Bewegung.

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Die Fünf und die Fünfundneunzig Prozent

Die Fünf und die Fünfundneunzig Prozent

Zum Thema Musik und Moral

Es ist eine mittlerweile ganz alltägliches Phänomen: Eine der grossen Kulturinstitutionen (Museen, Theater, Orchester…) legt ein ganz besonders „fortschrittliches, modernes“ Programm vor um junge Leute anzusprechen, neue Publikumsschichten zu gewinnen, kurz: Um relevant zu bleiben.

Dabei muss die Frage, die wirklich im Raum stehen sollte doch wohl diese sein: Wie ist es möglich, dass all diese Institutionen der Ansicht sind, sie müssten um Relevanz in der heutigen Gesellschaft kämpfen?

Wie konnte es soweit kommen, dass antisemitische Rapper, deren Texte aus Beschimpfungen und Hassparolen bestehen Millionen von Fans haben, während diejenigen, die die großen Meisterwerke der Geschichte lebendig und im Bewusstsein halten, immer mehr glauben ins Abseits zu geraten und ihre Existenz rechtfertigen zu müssen?

Ein Punkt, an dem anzusetzen ist, ist gewiss dieser: Die immer weiter nachlassende Vermittlung kultureller Bildung durch die Schulen. 

Der Musikunterricht in den Schulen ist in den letzten 30 Jahren immer mehr zu einem exotischen Randfach verkommen, dessen Zugehörigkeit zum Bildungskanon immer mehr in Frage gestellt wird, dessen Notwendigkeit in Zeiten der ohnehin zeitlich ineffektiven Ganztagsschule immer mehr in Frage gestellt wird.

Doch wie kann man einerseits, wie es viele Politiker tun, die immer mehr um sich greifende Verrohung der Kinder und Jugendlichen in Deutschland beklagen, nach immer härteren Strafen und einem immer weiter wuchernden Überwachungsstaat rufen und gleichzeitig den Kindern immer mehr die Bildungschancen entziehen?

Zum einen ist es eine durch zahlreiche Untersuchungen erwiesene Tatsache, dass der Bildungerfolg in Deutschland vor allem von der Dicke des Portemonnaies der Eltern abhängt, zum anderen ist der positive Einfluss von Musik, von Musikhören und, vor allem: Von Musik selber machen seit langem eine Binsenweisheit.

Was aber passiert? In manchen Bundesländern fallen bis zu 80 Prozent der Musikstunden aus, oder werden von unqualifizierten Lehrern gegeben.

Zusätzlich wird den Kindern durch die Ganztagsschule auch noch die Möglichkeit genommen, nach der Schule eine Musikschule zu besuchen, insbesondere im ländlichen Raum, wo noch zusätzliche Fahrzeiten anfallen.

Nicht zuletzt ist es offensichtlich der Wille der Politik, die Musikschulen in Deutschland immer weiter auszuhungern. Viele Lehrer müssen dort unter absolut unzumutbaren räumlichen wie finanziellen Bedingungen arbeiten, immer in der Angst, ihre Schule werde ihre Stelle doch noch einsparen müssen.

Dies ist keineswegs eine auf kleine, finanzschwache Kommunen beschränkte Beobachtung. Gerade die großen Städte, die immer Millionen für teure Prestigeobjekte zu haben scheinen, kürzen gerne an der musikalischen Bildung ihrer Kinder und verschärfen damit noch mehr die Tatsache, dass Musikunterricht immer mehr ein Privileg der Besserverdienenden wird.

Somit wird den Kindern also einerseits durch die Ganztagsschule ein ungemein wichtiges Moment der sozialen Bildung, die Familie nämlich, entzogen.

Andererseits wird ihnen aber auch die Möglichkeit gegeben, sich intensiv mit Musik, mit Klängen, mit der Erlernen eines Instruments auseinanderzusetzen, obwohl der positive Einfluss auf die emotionale wie persönliche Entwicklung gerade in der Kindheit seit vielen Jahren wissenschaftlich belegt ist!

Wen verwundert es da wenn Kinder, deren soziale wie musikalische Sozialisierung zu großen Teilen auf dem Schulhof stattfindet, fast schon automatisch den Weg des geringsten Widerstandes gehen.

Denn welche Musik wäre einfacher zu konsumieren als, um beim Beispiel zu bleiben, die offenbar in fünf Minuten auf dem Computer zusammengeklickten Simpel-Beats eines Farid Bang?

Worin liegt denn der große Erfolg einer Helene Fischer? Doch nicht in der (nicht vorhandenen) komplexen Kontrapunktik ihrer Lieder, sondern, abgesehen von einer wirklich meisterhaften Bühnenshow, in ihrer einfachen Konsumierbarkeit.

Darum ist ihr Name auch in aller Munde, ist mittlerweile geradezu zum Synonym für deutschen Schlager geworden.

Interessant war es, die öffentlichen Stellungnahmen nach dem ECHO-Skandal zu sehen: Während die Institutionen der Pop-und Rockindustrie, die Musikindustrie, die Lehranstalten und deren Vertreter offenbar hofften, die Angelegenheit aussitzen zu können – wenige Ausnahmen wie Campino (…über dessen Texte man sich durchaus streiten könnte…) oder Marius Müller-Westernhagen (…auch er diskutabel, mindestens für „Dicke“…) seien hier rühmend angeführt – ging ein Sturm der Entrüstung durch die Netzwerke der klassischen Musik, zahlreiche Echos landeten im Mülleimer, große Namen wie Barenboim oder Thielemann nannten das Kind endlich beim Namen, denn auch der Vorwurf des Antisemitismus sollte anfangs vom Tisch gewischt werden.

Wie dies?

Es scheint, dass sich in den Reihen der klassischen Musiker ein sehr hoher Prozentsatz von Überzeugungstätern findet, von Musikern, die aus echter Überzeugung ihrer Profession nachgehen, im Grunde nur sehr peripher am Markterfolg interessiert.

Dies mag nach einer sehr egoistischen Einstellung klingen, doch definiert sich die Kunst nicht gerade durch ihre völlige Freiheit den Strömungen der Zeit gegenüber? Ist es nicht die Beschreibung der Kunst an sich, immer nach neuem zu suchen ohne Rücksicht auf das was gerade opportun wäre?

Waren die Künstler nicht einst diejenigen, die den Puls der Gesellschaft veränderten? Bach, der die Musik aus der Kirche holte, Beethoven, der sämtliche gesellschaftlichen Konventionen aufbrach? Goethe, Schiller, Kant, die – jeder in seiner Weise – der Gesellschaft ihre moralischen Scheuklappen vors Gesicht hielten?

Wäre es nicht allerhöchste Zeit dafür, dass die klassische Musik ihren Elfenbeinturm verlässt und den Versuch unternimmt, wieder für 95 Prozent der Gesellschaft jenen bestimmenden Platz einzunehmen der momentan von rappenden Gestalten mit wilden Bärten beziehungsweise von Helene Fischer eingenommen wird, anstelle nur für einen elitären Bezirk von 5 Prozent eine Rolle zu spielen?

Was spricht eigentlich dagegen, auch in Stadien und Arenen zu spielen? Die Tontechnik ist längst soweit, ein Orchester auch unter solchen Umständen gut klingen zu lassen und das Konzertformat als solches längst alltäglich.

„Bach to the People“ hat es Friedrich Gulda genannt – und es schon vor langem selber durchexerziert, in einem Konzert, in dem er als Ersatz für eine ausgefallene Vorgruppe eine halbe Stunde Open Air als Opener für Randy Newman spielte – und zwar nicht etwa seine eigenen Jazzkompositionen, sondern – Mozart!

Ich habe vor Jahren mit einem damaligen Besucher des Konzerts gesprochen, der den Abend so zusammenfasste: „Mehrere Tausend mehrheitlich junge Leute halten 30 Minuten atemlose Andacht bei tief berührender Musik. Der Newman hat es danach sehr, sehr schwer gehabt….!“

Und vor allem: Was spricht dagegen, dass sich die klassischen Musiker wieder in die Alltagsdebatte einmischen? 

Musik an sich, gerade Musik vom Rang einer h-moll-Messe trägt einen großen moralischen Anspruch in sich, eine Suche nach Vollendung und Frieden.

Gerade im Licht der Vorgänge um den ECHO im April 2018 wäre es doch an der allerhöchsten Zeit, die Deutungshoheit über die Musik wieder aus den Händen derer, die in Musik nur Mittel zum Zweck sehen, nur ein Wirtschaftsgut das gute Umsätze generiert, zurückzuholen.

Musik ist die einzige universelle Sprache, die alle Menschen von Geburt an sprechen. Jeder Mensch versteht Musik, jeder auf seine ganz einzigartige Weise.

Es sollte also die Rolle der Musiker sein, die Musik zu jedem Menschen zu bringen, ganz besonders aber zu den Kindern, denn die Kinder sind schliesslich unsere Zukunft!

Natürlich kann dies nur gelingen, wenn die Politik endlich begreift dass die Musik eben kein Kostenfaktor ist, sondern vor allem dies: Ein kategorischer Imperativ.

Und dieser kategorische Imperativ sollte auch bestimmend sein für alle Musiker, denn auch wenn es anfangs schwer fallen mag: Wir sind in der Lage, den Menschen etwas zu geben, das ihr ganzes Leben verändern kann, wir müssen es aber auch ganz klar öffentlich formulieren und uns klar gegen all jene positionieren, die mit ihrer „Musik“ nur Hass und Gewalt in die Herzen bringen, nur ein Ziel im Sinn: Den Geldbeutel ihrer Zuhörer.

So ganz unschuldig sind die Klassiker und Jazzer allerdings auch nicht am Untergang des ECHO: Es war natürlich einfacher, sich in seinen jeweiligen Elfenbeintürmen zu verbarrikadieren als Stellung zu beziehen dazu, dass da draußen die Welt untergeht – musikalisch gesehen. 

Dass die Preise denselben Namen tragen und von der Öffentlichkeit als ein und derselbe ECHO verstanden werden, war rückblickend der große Geburtsfehler des Preises. 

Mit ausbaden müssen ihn jetzt auch die Klassiker, weil wir dem Pop in den letzten Jahren die Deutungshoheit über die Musik in D überlassen haben, uns nicht eingemischt haben in öffentliche Debatten sondern uns damit begnügt haben, zuhause den Trophäenschrank abzustauben. 

Es ist an der allerhöchsten Zeit, dass die klassische Musik sich selbst wieder als allgemein gesellschaftlich relevant begreift, ihren bequemen Elfenbeinturm verlässt, nicht nur um wieder zurückzukehren ins allgemeine Bewußtsein, sondern eben auch um wieder als eine moralische Institution begriffen zu werden, die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht nur hilflos zusieht, sondern sich diesen wo nötig mit aller Kraft entgegen stellt. 

Natürlich müssten auch die Feuilletons ihre Rolle dabei ganz neu definieren. Eine Wende zum besseren kann nur gelingen, wenn all diejenigen die mit der Musik zu tun haben – Musiker, Ausbildungsstätten, Sendeanstalten, Musikindustrie, Träger in Stadt, Land und Bund, Presseorgane – ihrer Verantwortung der Musik gegenüber wieder gerecht werden.

Es ist notwendig, bei allem berechtigten Stolz auf das selbst erreichte niemals die Selbstkritik ganz auszuschalten, ebenso wie die ehrlich bewundernde, aber auch kritische Betrachtung des Tuns anderer.

Das soll keineswegs den Weg in eine wie auch immer geartete Zensur bedeuten! Die Kunst ist frei und soll es immer bleiben!

Aber es wird Zeit für eine kritische Betrachtung, was der klassischen Musik denn das Ankuscheln an den Rock, den Pop, den Jazz eingebracht hat?

Haben all die mit viel Liebe und Arbeit auf die Schienen gesetzten Crossover-Projekte wirklich die Sinfonieorchester, die Solisten, die Opernhäuser mehr ins Bewusstsein der jungen Generation gebracht?

Meine persönliche Beobachtung ist eher die, dass die klassischen Teile solcher Programme eher abgesessen werden und dann ein Aufatmen durch das Publikum geht, wenn endlich der Rock und der Pop ihre Stimme erheben.

Dies soll keine Herabsetzung dieser Musik bedeuten! In Rock und Pop sind genau wie in der Klassik große Meisterwerke entstanden, es stellt sich aber die Frage, ob diese durch die Kombination miteinander nicht eher leiden als gewinnen?

Würde es der Respekt den Werken gegenüber nicht gebieten, dem Publikum diese ohne weitere Komplikationen durch verwirrende Programme zu präsentieren?

Ich bin, um ein Beispiel zu nennen, dem Nationaltheater Mannheim dankbar dafür, dass es mich durch seine „Vespertine“-Adaption dazu animiert hat, die CDs wieder aus dem Schrank herauszusuchen und mich mit der so ganz eigenen Musik Björks zu befassen.

Doch ist dies nicht ein Hinweis darauf, dass es öfter als bisher der Erinnerung an Meisterwerke der Vergangenheit bedarf?

Und wenn es schon des Hinweises auf die Berühmtheit Björk bedarf, warum wird der klassischen Musik dann immer mehr die Möglichkeit genommen, die Kinder bereits in der Schule oder noch früher zu erreichen?

Warum höre ich, wenn ich im Radio (Antenne wie Internet) herumzappe so viel Mainstream-Pop?

Ich habe nichts gegen Popmusik, ganz im Gegenteil!

Aber ich habe etwas gegen die Indoktrinierung unserer Jugend, dagegen, dass ihr vorgeschrieben wird, welche Musik sie gut zu finden hat, bevor sie überhaupt weiss was es alles gibt. Wer hört denn in der jungen Generation noch, was früher „Weltmusik“ genannt wurde?

Und selbst dann möchte ich nicht, dass mir der Rundfunk oder – auch das – Spotify, Apple Music und andere Streaming-Dienste immer das gleiche Menü vorsetzen.

„Kinder, schafft neues!“ sagte Richard Wagner und so möchte ich immer neues entdecken und nicht immer die ewig gleichen „Anderen, die …. hörten, gefällt auch…“ -Listen sehen, so schmal ist Musik nicht!

Auch die Klassik ist nicht frei davon: Möchte ein Künstler ein bekanntes Werk aufnehmen, heißt es oft „Das gibt es schon 127mal am Markt“. 

Mag sein, aber vielleicht möchte das Publikum gerade diesen Künstler mit gerade diesem Werk hören, wer weiß? Außerdem: Wenn unser Publikum sich stetig erneuern soll, warum scheuen wir dann vor Wiederholung zurück?

Das Publikum heute (2018) ist ein völlig anderes als das vor 10 Jahren und auch die heutigen Konzertbesucher möchten die 5.Symphonie von Beethoven hören, ja, wir werden sie überhaupt nur erreichen, wenn wir immer wieder an die großen Meisterwerke der Klassik, auch der zeitgenössischen, erinnern!

Nur dann wird es der klassischen Musik meiner festen Überzeugung nach gelingen, wieder eine größere Rolle im Leben der Menschen von heute zu spielen, vielleicht sogar wieder die Rolle, aus der sie sich durch Rock und Pop  immer mehr hat drängen lassen!

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Alltag und Ideale

Wenn wir jung sind, brennt unser Geist, brennen unsere Träume und Wünsche mit der Intensität einer Lötlampe.

Dann beginnt der Ernst des Lebens: Studium, Praktikum, die erste Stelle und – vielleicht – das erste eigene Unternehmen oder die erste Chefstelle.

Wir stürzen uns in die Arbeit und finden uns doch mit einem Mal an einem Punkt, an dem es nicht mehr weitergeht, an dem das Ende aller Ideen gekommen ist und wir nur noch den grauen Alltag zuende bringen, gefangen in den Zwängen des alltäglichen Weiterlebens und der Verantwortung für uns und andere.

Doch bleibt eine leere Stelle in uns, eine unerfüllte Sehnsucht, denn wir haben unseren Traum verloren.

Wir vergessen vor lauter Alltagsgeschäft, in die Zukunft zu schauen. Wir denken von Tag zu Tag, planen von Monat zu Monat und entwerfen Ideen von Vierteljahr zu Vierteljahr – aber wir vergessen darüber unsere großen Ideen, mit denen wir einst angetreten sind, die Welt zu verändern.

Wir sind so sehr damit beschäftigt, Geld zu verdienen um die Büromiete, die Steuern, das nächste Auto zu bezahlen, dass wir uns selbst und unsere Ideale unter einem großen Haufen von Entschuldigungen begraben.

Wir begraben Entschlüsse unter einem Berg von Konferenzen und Meetings, auf denen sie von Bedenkenträgern und Erbsenzählern solange zerredet werden, bis aus einer brillanten Idee ein farb- und geschmackloser Brei geworden ist.

Aber irgendwann kommen wir an einen Punkt, an dem unsere Träume und der farblose Brei einander ausschließen, an dem die eine Entscheidung zuviel getroffen wird, die eine Tür zuschlägt.

Und es ist genau diese eine Tür, deren Sich-schließen wir rückblickend am meisten bedauern – und auch am meisten bedauern sollten.

Ich will ein Beispiel nennen: Als Steve Jobs den Gedanken hatte, der zur Entwicklung des iPod führte, existierten nicht eimal alle dafür notwendigen Technologien.

Wäre Jon Rubinstein, von Jobs beauftragt, nicht zufällig über eine neu entwickelte Mini-Festplatte gestolpert, für die deren Hersteller keine rechte Verwendung hatte, hätte der iPod vielleicht nie das Licht der Welt erblickt.

Hätte Jobs nicht wochenlang das Designteam um Jony Ive mit immer neuen Wünschen fast in den Wahnsinn getrieben, wäre das ikonische Design – und wer kommt bei einem Alltagsgegenstand ausgerechnet auf die Farbe Weiß? – vielleicht so nie entstanden.

Jobs war ein Pedant, eine Nervensäge und, wie ich selbst miterleben durfte, der Inbegriff der Ungeduld. Aber seine visionären Ideen, sein Perfektionswahn haben die Welt verändert.

Und was die Marktforschung betrifft: Die hat Apple den Ruin vorausgesagt, als das iPhone auf den Markt kam…..

Wir müssen endlich aufhören, unsere Ideen, unsere Träume einer Gesellschaft unterzuordnen, die alles und jedes nur dem Diktat der Märkte und der Marktforschung unterwirft, die längst Moral durch Gier ersetzt hat und anstelle dessen eben dieser Gesellschaft den Spiegel vorhalten und ihr zeigen, was sie versäumt, wenn sie über Ideen lacht, die weit in die Zukunft weisen!

Wir müssen den Tunnel verlassen, in dem wir leben und dessen Wände uns, je länger wir uns in ihm bewegen, als die Grenzen des Machbaren erscheinen.

Denn wo die Grenzen sind, bestimmen wir selber, nicht jene, die glauben zu wissen, wo es langgeht.

Wir müssen aufhören, etwas zu versuchen anstatt es einfach zu tun. Wir müssen aufhören, uns dem „comme il faut“ zu unterwerfen und wir müssen auf die Menschen zugehen, ihre Herzen mit Freude füllen, anstelle ihnen das Gefühl zu geben, ständig überfahren oder ausgenutzt zu werden.

Denn sonst werden wir zu geistlosen Drohnen werden, die immer den einfachen, bequemen Weg gehen und verlernt haben, solange mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, bis diese nachgibt.